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jenigen, die das zu tun vorgeben, benehmen sich in Wahrheit als
Empiristen, das heißt, sie legen eine bestimmte, die empiristische
Auffassung vom logischen Wesen des Erkennens zugrunde — nur
ohne sich selbst darüber Rechenschaft zu geben. Wir unterscheiden
die zwei großen Gruppen der empiristischen und der nicht-empi-
ristischen Auffassung des Erkennens, denen die individualistische
und universalistische Auffassung der Gesellschaft als Entsprechungen
gegenüberstehen, wie sich zeigen wird
1
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A. Die e m p i r i s t i s c h e A u f f a s s u n g
Diese hat wieder mannigfache Formen, wovon wir die sensuali-
stische, relativistische und pragmatische hervorheben. Der Grund-
gedanke des Sensualismus ist in der berühmten Formel ausgespro-
chen: „nihil est in intellectu quod / non fuerit in sensu.“ (Nichts
ist im Verstande, was nicht in den Sinnen war.) Darnach ist das
Wissen nur die Summe der durch die Sinne aufgenommenen Ein-
drücke: ein Wechselndes und auch Subjektives, wodurch der Sen-
sualismus in Relativismus und Subjektivismus übergeht.
Der rasch wechselnde Inhalt der induktiven Wissenschaften und der geringe
Stand der heutigen philosophischen Bildung führten im 19. Jahrhundert mehr und
mehr zu der Meinung, daß Wahrheit etwas „Relatives“ sei, das ist zu einem
logischen Relativismus. Schon der griechische Sophist Protagoras vertrat diese
Ansicht, die in dem Satze „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ zum Ausdrucke
kam. In der Neuzeit waren Locke, Hume und die englisch-französische Auf-
klärungsphilosophie die Verfechter dieses Standpunktes, im 19. Jahrhundert wa-
ren es Comte, Mill, Spencer, die Materialisten (Büchner usw.), die Monisten
(Ostwald, Häckel), die sogenannten Empiriokritizisten Mach und Avenarius, um
nur diese zu nennen. Namentlich alles, was von der Naturwissenschaft herkam,
lehrte und lehrt den Relativismus. Seine geistvollste Form fand er im „Empirio-
kritizismus“ von Avenarius (Wahrheit = das „denkbar meist sich Wiederholende“
im Ablaufe der Nervenvorgänge; dieses: ein biologisches Anpassungserzeugnis,
Wahrheit daher ein Grenzbegriff, nur in unendlicher Wiederholung zu erreichen).
Eine verbreitete Form des Relativismus ist der „Pragmatismus“, der das eng-
lisch-amerikanische, auch das französische Denken vielfach beherrscht. Im Prag-
matismus wird ein unbekümmertes darwinistisches Denken, oder soll man sagen
ein roher kaufmännischer Geist?, auf die Logik übertragen. Wahr ist für diese
Ansicht, was uns den größten praktischen Lebenserfolg verbürgt. Unsere Be-
griffe nehmen ihren Wahrheitswert nur aus dem, was sie für die Lebensführung
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Daß Empirie und empiristisch nicht einerlei ist, daran wurde oben erinnert
— vgl. oben S. 19, siehe auch unten S. 383 f. und öfter.