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schen ohne Staat denkt. Was wären sie da? Einzelne, auf sich selbst gestellte
autarke Wesenheiten mit unbegrenzten Freiheitsrechten, die in einen „Kampf
aller gegen alle“ ebenso wie in eine „Furcht aller vor allen“ verfielen (Hobbes).
Indem sie den Staat gründeten, verzichteten sie zwar auf einen Teil ihrer un-
begrenzten Freiheitsrechte, nämlich Leben und Eigentum der andern zu ver-
letzen, sicherten sich aber dadurch die übrigen um so mehr. Der eingesetzte
Herrscher mit seinen Wächtern wacht über die Einhaltung der Verträge, über
den Schutz von Leben und Eigentum. Dieser Herrscher vollbringt den Willen /
der Einzelnen: Der S t a a t s w i l l e l e i t e t s i c h v o m W i l l e n a l l e r
E i n z e l n e n a b ( V o l k s s o u v e r ä n i t ä t ) — daraus: die Bildung des Staats-
willens durch W a h l u n d V e r t r e t u n g (Repräsentation). — Daraus folgt
auch: Der Staat ist nicht selbst eine Wirklichkeit, sondern leitet sich von den
Einzelnen ab. Ferner: Der Herrscher mit seinen Wächtern ist wesengemäß nur
der Nützlichkeit halber (für die Einzelnen) eingesetzt worden, seine Tätigkeit
ist äußerlicher, zweckmäßiger Art. Der S t a a t i s t d a r n a c h e t w a s
d u r c h a u s W e r k z e u g l i c h e s . E r i s t n i c h t i n s i c h s e l b s t
e t w a s G e i s t i g - S i t t l i c h e s .
Nach der zweiten Staatserklärung des Individualismus, dem M a c h i a v e l -
l i s m u s , ist der Staat der Inbegriff der Herrschaftsausübung, die dadurch ent-
steht, daß der Starke die Schwachen unterdrückt. Auch hier ist der Staat ein
Inbegriff von Nützlichkeit, Werkzeuglichkeit, wenigstens für die Machthaber
und Ausbeuter. — Dieser Staatsbegriff ist auch der M a r x i s c h e. Da in der
„klassenlosen“ Zukunftsgesellschaft niemand den andern unterdrückt, hört auch
der Staat auf. Diese Lehre vom „Absterben des Staates“ zeigt am deutlichsten,
daß er nur als Anhängsel des Einzelnen betrachtet wird. Marx, nebenbei gesagt,
erweist sich in diesem Kardinalpunkte als Anarchist.
Nach der herrschenden individualistischen Auffassung der Ver-
tragslehre gibt es auch folgerichtig keine Frage des inneren Baues
und Gefüges des Staates. Diese Auffassung ist atomistisch (1), weil
sie alles vom Einzelnen ableitet; sie führt zur politischen Gleichheit
oder Homogenität (2), weil jeder gleich viel von seinen unbegrenz-
ten Rechten hergegeben hat, was er auch sonst als geistig-sittliche
Persönlichkeit sei, ein schöpferischer Geist oder ein Durchschnitts-
mensch; aus eben diesem Grunde ist die Willensbildung des Staates
mechanisch (3). Sie ist eben darum zugleich zentralistisch (4), weil
jeder eine Bürger ebenso sehr wie der andere unmittelbar der
Staatsgewalt untersteht, die er ja selbst durch Verzicht auf einen Teil
seiner Rechte und ihre Übertragung auf die Beauftragten bilden
hilft — „ein Volk, eine Regierung“, so kann man diesen Grund-
satz der Zentralisation bezeichnen.
Als Hauptpunkte der empiristisch-individualistischen Staatslehre
sind darnach zu betrachten:
Erstens: der Staat ist nicht selbst etwas Wirkliches, sondern leitet
sich von den Einzelnen her;