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same Auseinanderlegung der Sozialwissenschaft in eine Summe von
Teiltheorien näher kennen gelernt, desgleichen auch seine Unter-
scheidung von unreflektiert und reflektiert entstandenen Sozial-
phänomenen. So verblieben hier nur noch G e o r g v o n M a y r
u n d F r i e d r i c h v o n G o t t l - O t t l i l i e n f e l d , die wir
bisher noch nicht behandelt haben.
G e o r g v o n M a y r
* 1
versteht unter Gesellschaft mannigfache
Wechselbeziehungen, die in „geschlossenen Massen“ vorhanden sind.
„Massen“ sind Vielheiten von Menschen, die durch die Wechsel-
beziehungen ihrer Glieder zusammengeschlossen sind
2
. Die wissen-
schaftliche Erkenntnis kann gerichtet sein: auf die M a s s e n a n
s i c h und auf die speziellen Arten und G r a d e d e r V e r g e -
s e l l s c h a f t u n g . Den niedersten Grad von Vergesellschaftung
stellen die s o z i a l e n K r e i s e dar (= soziale Schichten, soziale
Gruppen, soziale Gebilde); an diese reihen sich die s o z i a l e n
S e k r e t i o n e n , die — wie z. B. das Recht — als Produkte des
gesellschaftlichen Lebens zur Verselbständigung und Dauerexistenz
neben dem physischen Leben der Gesellschaftsmitglieder gelangen.
Gesellschaftswissenschaft ist darnach alle wissenschaftliche Erkennt-
nis, „ d i e a u f d i e s o z i a l e n M a s s e n , K r e i s e u n d
S e k r e t i o n e n s i c h b e z i e h t “
3
.
1
Georg von Mayr: Begriff und Gliederung der Staatswissenschaften, Zur Ein-
führung in deren Studium, 2. Aufl., Tübingen 1906, S. 4 ff.; Statistik und Ge-
sellschaftslehre, Bd 1: Theoretische Statistik, Freiburg im Breisgau 1895, § 1
und
11
.
2
Georg von Mayr: Begriff und Gliederung der Staatswissenschaften, Zur Ein-
führung in deren Studium, 2. Aufl., Tübingen 1906, S. 5.
3
Georg von Mayr: Begriff und Gliederung der Staatswissenschaften, Zur
Einführung in deren Studium, 2. Aufl., Tübingen 1906, S.
6
. Das System der
sozialen Wissenschaften, das von Mayr demgemäß konstruiert, ist folgendes;
I. Allgemeine Gesellschaftswissenschaften:
1.
Statistik — auf die sozialen Massen als solche gerichtet.
2. Soziallehre im engeren Sinne — Die Lehre von den sozialen Schichten (mit
Einschluß der Sozialpolitik und Bevölkerungslehre).
3. Soziologie — Die Lehre von den organisierten sozialen Kreisen (sozialen
Gebilden).
II.
Besondere Gesellschaftswissenschaften:
1. Wirtschaftspolitik (als Erforschung einer bestimmten Richtung dauernder
gesellschaftlicher Beziehungen).
2. Die Spezialerforschung einzelner sozialer Gebilde von besonderer Bedeu-
tung: Staat, Kommunalverbände, Kirche usw.