116
keitsverhältnisse der Menschen — auf einen p r i m ä r e n Bestand-
teil der menschlichen Natur, Liebe im weitesten Sinne, gegründet
werden müssen. Dies ist der grundsätzlichste Einwand gegen Steins
Abstraktion der „Gesellschaft". Endlich entbehren die Erscheinungs-
kreise von Sprache, Recht, Sitte und Brauch, sowie der Familie we-
nigstens als relative selbständige Teilsysteme einer zulänglichen Be-
stimmung. — Die Bestimmung der Volkswirtschaft sodann als „Or-
ganismus des Güterwesens" trifft prinzipiell mit der Abstraktion
eines Gesellschafts-K ö r p e r s überein, welche wir bei Schäffle be-
reits in ihren grundsätzlichen Konsequenzen kennen gelernt und
kritisch untersucht haben.
Sind sonach Steins Unterscheidungen als Zerlegung der sozialen
Wirklichkeit in Objektivationssysteme unhaltbar, so ist es anderer-
seits doch gewiß, daß in seinem Versuche einer „Gesellschaftslehre“
nicht unbedeutende induktive Werte stecken; wenn es auch leider
in dieser Hinsicht der Fall ist, daß die dialektische Methode viel
Unheil angerichtet hat. Schäffle hat die zugrunde liegende Abstrak-
tion insofern fruchtbar gemacht, als er die Tatsachen, welche Stein
im Auge hatte, als ideelle Verbindung der Menschen schlechthin,
das ist als M a s s e n z u s a m m e n h ä n g e bestimmte. Sein Ver-
such, ihnen ihre Stelle im S y s t e m sozialer Erscheinungen anzu-
weisen, muß allerdings kritisch aufgenommen werden. Hier sei auch
darauf hingewiesen, daß die ältere Völkerpsychologie großenteils
die von Stein als „Gesellschaft“ bezeichneten Tatbestände im Auge
hatte, und daß diese auch in neuerer Zeit mehrfach von Simmel und
Schmoller
1
als gesellschaftliche „Bewußtseinskreise“ und ähnliches
behandelt worden sind. — Der einzige bewußte und umfassende
Versuch einer Verwertung der im „Gesellschaftsbegriff“ bezeichne-
ten Phänomene für die Nationalökonomie ist der K a r l D i e t -
z e l s
2
. Karl Dietzels Sonderstellung haben wir oben schon be-
1
Georg Simmel: Über soziale Differenzierung, 2. anastatischer Neudruck der
Auflage von 1890, Leipzig 1905; Gustav Schmoller: Grundriß der allgemeinen
Volkswirtschaftslehre, Teil 1, 4.—
6
. Aufl., Leipzig 1901, S. 15 (woselbst auch
Literaturangaben). Diese wie andere soziologische Autoren haben allerdings kaum
b e w u ß t an Steins Begriff der „Gesellschaft“ angeknüpft.
2
Carl Dietzel: Die Volkswirtschaft und ihr Verhältnis zu Staat und Gesell-
schaft, Frankfurt am Main 1864.