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Das Bedürfnis nach einer Völkerpsychologie mache sich von einem psycho-
logischen, einem anthropologischen und einem geschichtlichen Standpunkte aus
geltend. Am meisten vom psychologischen Standpunkte aus, denn die Individual-
psychologie lehre, daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaft-
lich ist
1
. Das Individuum, wie es Gegenstand der Individualpsychologie ist, kann
nur durch Abstraktion isoliert werden. Durch das gesellschaftliche Zusammen-
leben der Menschen werden eigentümliche psychische Erscheinungen erzeugt,
„welche gar nicht den Menschen als Einzelnen betreffen, nicht von ihm als sol-
chem ausgehen“ und daher unter einem besonderen Begriffe, den des G e s a m t -
g e i s t e s oder V o l k s g e i s t e s zusammenzufassen sind
2
.
Dieser Begriff fordert eine selbständige, wissenschaftliche Bearbeitung, da das
durch ihn Bezeichnete der Individualpsychologie grundsätzlich unerreichbar ist.
Es muß neben die Individualpsychologie als Fortsetzung eine „Psychologie des
gesellschaftlichen Menschen oder der menschlichen Gesellschaft“ treten, die V ö l -
k e r p s y c h o l o g i e
3
. Diese ist die „Wissenschaft vom Volksgeiste, das heißt
Lehre von den Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens“
4
. Ihre
Hauptaufgaben sind: „Das Wesen des Volksgeistes und sein Tun psychologisch
zu erklären; die Gesetze zu entdecken, nach denen die innere geistige oder ideale
Tätigkeit eines Volkes . . . vor sich geht, sich ausbreitet und erweitert oder ver-
engt . . . ; die G r ü n d e , Ursachen und Veranlassungen, sowohl der Entste-
hung, als der Entwicklung und letztlich des Unterganges der Eigentümlichkeiten
eines Volkes zu enthüllen
.“
5
Hier wird also der Völkerpsychologie eine theoretische und eine geschicht-
liche Aufgabe (konkrete „Veranlassungen“) vorgezeichnet.
Die Völkerpsychologie kann nach Lazarus nur von den T a t s a c h e n d e s
V ö l k e r l e b e n s ausgehen. Die Kulturgeschichte aller Nationen mit allen
ihren Zweigen liefert das Material
6
. Die Völkerpsychologie zerfällt in zwei
Disziplinen. Die erste könnte man völkergeschichtliche oder p o l i t i s c h e
P s y c h o l o g i e nennen. Die Aufgabe derselben wäre, zu zeigen, „was über-
haupt der Volksgeist ist, unter welchen ganz allgemeinen Bedingungen und
Gesetzen er lebt und wirkt, welches überall seine konstitutiven Elemente sind,
wie diese sich bilden“ und so fort, „so daß hieraus die Entstehung und die Ent-
1
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 3. — Moritz Lazarus: Leben der Seele, Bd 1, Berlin
1856, S. 133 und öfter.
2
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 5.
3
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 5.
4
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 7.
5
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 7. Man merke, wie hier die Beziehung auf die theo-
retische Erklärung der g e s e l l s c h a f t l i c h e n Tatsachen als solcher über-
all gänzlich fehlt, während doch die Erscheinungen des „Gesamtgeistes“ selbst
durchaus gesellschaftlicher Natur sind.
6
Moritz Lazarus und Heymann Steinthal: Einleitende Gedanken über Völ-
kerpsychologie, a. a. O., S. 23 f.