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welche die individualistische Lehre bis heute fälschlich als
„Bedingungen“ der Wirtschaft ansieht
* 1
.
/
Hiermit ist das große Bild an uns vorübergezogen, wie die
übergeordneten
Gedankenkreise
—
Individualismus
und
Universalismus — das volkswirtschaftliche Denken beherrschen und
welche verschiedene Gestalt die Volkswirtschaftslehre durch den einen
wie den anderen bisher gewonnen hat.
Blicken wir auf dieses Bild, so sehen wir bei dem Individualismus ein
geschlossenes Begriffsgebäude, bei dem Universalismus nur erst die
großen Grundkonzeptionen. Der geschichtlich entwickelte Gegensatz
reicht aber hin, um unsere Behauptung zu beweisen: von dem Irrtum
einer einheitlichen Volkswirtschaftslehre; und ebenso unsere
Behauptung: von dem Irrtum der Isolierung von Wirtschaft und
Gesellschaft, der Isolierung von Volkswirtschaftslehre und
Gesellschaftswissenschaft. Beides folgt aus unserem Ergebnis: D e r G e
i s t der V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e i s t d e r G e i s t d e s
ü b e r g e o r d n e t e n
G e d a n k e n k r e i s e s ,
d e r
G e s e l l s c h a f t s l e h r e ; er ist ein individualistischer oder ein
universalistischer, je nach der Theorie der Gesellschaft, von der der
Wirtschaftsforscher ausgeht; er macht die Volkswirtschaftslehre zu
einer wahrhaften Gesellschaftswissenschaft, er trennt die
Volkswirtschaftslehre in zwei unversöhnliche und unvereinbar
einander gegenüberstehende Richtungen, in zweierlei Wissenschaften
2
.
List verwirft die Freihandelstheorie von Smith und Ricardo als eine „Theorie der
Werte“, das ist als eine Theorie des Tausches zwischen schon gegebenen, fertigen,
atomistisch und autark gedachten Wirtschaftserzeugnissen.
Er setzt an die Stelle dieser Lehre jene von der notwendigen Entwicklung und
Erziehung produktiver Kräfte im Innern der Volkswirtschaft und die andere ebenso
wichtige von der notwendigen und unentbehrlichen Gegenseitigkeit aller gewerblichen
Erzeugungszweige sowohl wie der großen Wirtschaftszweige von Gewerbe und
Landwirtschaft. Die Förderung der Landwirtschaft durch die Marktnähe der Industrie,
die Förderung der Industrie durch den Schutzzoll — dies ist echt universalistische
Denkweise, die weit über die atomistische Wertrechnung, die nur das Gegebene zu sehen
vermag, hinausgeht. Hier waltet der universalistische Geist mit höchster Fruchtbarkeit
in der Volkswirtschaftslehre, hier ist Wachstum und Lebendigkeit.
1
Vgl. mein Buch: Fundament der Volkswirtschaftslehre, Jena 1918, S. 93 ff., 138 ff.
und 146 ff. [oben S. 125 ff., 211 ff. und 224 ff.].
2
Diese These dürfte heute auf starken Widerstand stoßen. Es sei mir daher erlaubt,
hier noch den Einwand vorwegzunehmen, daß die Wahrheit in der Mitte liege und dort
auch eine beiden Parteien angenäherte und in diesem Sinne ge