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aus diesen Vorstellungen und Trieben entsprungenen a l l g e m e i -
n e n W i l l e n s r i c h t u n g e n in sich“
1
. Demgemäß sind die
drei Objekte der Völkerpsychologie je auf eine i n d i v i d u a l -
p s y c h o l o g i s c h e Grundfunktion zurückzuführen: Die Sprache
auf die Vorstellungen (beziehungsweise Ausdrucksbewegung), My-
thus und Religion auf die Phantasie, die Sitte auf das Wollen. Ihren
v ö l k e r p s y c h o l o g i s c h e n Charakter gewinnen diese Er-
scheinungen erst dadurch, „ d a ß d i e B e d i n g u n g e n d e s
g e m e i n s a m e n L e b e n s h i n z u k o m m e n . . .“
2
Jedes dieser Gebiete gemeinsamen Vorstellens, Fühlens und Wol-
lens steht nun aber zugleich unter dem Einflusse hervorragender
Individuen, welche das historisch und unreflektiert Gewordene
w i l l k ü r l i c h gestalten. In dem Maße, als dieses willkürliche
Eingreifen einzelner zunimmt, gehen nun die Objekte völkerpsy-
chologischer Forschung in solche geschichtlicher Forschung über, in
welch letzteren die ersteren „nur noch als Grundströmung fort-
wirken“
3
. Die geschichtliche Betrachtung erscheint daher als Fort-
setzung und bis zu einem gewissen Grade zugleich als Anwendung
der völkerpsychologischen Forschung. „So ruht auf der Psychologie
der Sprache die Literaturgeschichte; so auf der Psychologie des My-
thus die Geschichte der Kultur-Religionen, sowie der Wissenschaft
und Kunst; so auf der Psychologie der Sitte die Kulturgeschichte der
Sitte nebst der Geschichte der Rechtsordnungen und der in den
philosophischen Moralsystemen niedergelegten sittlichen Welt-
anschauungen. Jedes dieser historischen Gebiete setzt aber mit seiner
Geschichte da ein, wo die völkerpsychologische Betrachtung endet,
bei dem Punkte nämlich, wo der übermächtige Einfluß Einzelner die
allgemeinen geistigen Entwicklungen zwar nicht aufhebt, aber doch
zurückdrängt.“
4
1
Wilhelm Wundt: Ziele und Wege der Völkerpsychologie, a. a. O., S. 25;
vgl. dazu auch Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Abt. 1: Die Sprache, Bd I/1,
Leipzig 1900, S. 26 f.
2
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Abt. 2: Mythus und Religion, Bd 2,
Leipzig 1906, S. 3 (im Original nicht gesperrt).
3
Diese Unterscheidung unreflektierten Werdens der Sozialgebilde von will-
kürlichem, reflektierter Bildung derselben ist mit der früher besprochenen ana-
logen Unterscheidung Carl Mengers verwandt aber nicht identisch.
4
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd I/1, Leipzig 1900, S. 25.
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