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in Betracht kommen, denn sie richte ihr Hauptaugenmerk ausschließlich auf die
psychologische Gesetzmäßigkeit des Zusammenlebens selber
1
. Während die Völ-
kerpsychologie „nichts anderes sein will, als eine Erweiterung und Fortsetzung
der Psychologie auf die Phänomene gemeinsamen Lebens, ist es die Aufgabe,
die Geschichte, „eine Rekonstruktion der geschichtlichen Erlebnisse der Völker
und ihrer in Kampf und Verkehr sich betätigenden Wechselbeziehungen“ zu
versuchen
2
. Die scharfe Abgrenzung beider Gebiete bleibe indessen doch un-
möglich, da der Punkt, wo das schöpferische Eingreifen Einzelner wesentliche
Bedeutung erlangt und daher das Erzeugnis den Charakter des Gemeinsamen
und Gemeinschaftlichen nicht mehr in gleicher Weise besitzt, vordem unbe-
stimmbar bleibt, und außerdem die geistigen Erzeugnisse der Gemeinschaft ja
überhaupt immer von Einzelnen hervorgebracht worden sind. Nach Wundt las-
sen sich indessen drei Merkmale für diese Grenze angeben. Ein historisches,
welches durch das direkt nachweisbare Eingreifen Einzelner bezeichnet ist; ein
psychologisches, welches auf den Übergang der triebartigen Willenshandlung in
eine bewußte, willkürliche Abwägung der Motive voraussetzende Handlung geht,
endlich ein ethnologisches Merkmal, welches eigentlich nur aus der Zusammen-
fassung der beiden ersteren hervorgeht, nämlich die Unterscheidung von Natur-
völkern und Kulturvölkern. Bei den Naturvölkern herrscht das triebartige Han-
deln in weit höherem Maße vor, bei gleichzeitig damit verbundenem Mangel an
willkürlichem und weittragendem Eingreifen einzelner hervorragender Indi-
viduen
3
.
Das Verhältnis der Völkerpsychologie zur Individualpsychologie bestimmt
Wundt folgendermaßen: die Individualpsychologie „sucht die Tatsachen der un-
mittelbaren Erfahrung, wie sie das subjektive Bewußtsein uns darbietet, in ihrer
Entstehung und in ihrem wechselseitigen Zusammenhange zu erforschen. In
diesem Sinne ist sie I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e. Sie verzichtet durch-
gängig auf eine Analyse jener Erscheinungen, die aus der geistigen Wechsel-
wirkung einer Vielheit von Einzelnen hervorgehen. Eben deshalb aber bedarf sie
einer ergänzenden Untersuchung der an das Zusammenleben der Menschen ge-
bundenen psychischen Vorgänge. Diese Untersuchung ist es, die wir der V ö l -
k e r p s y c h o l o g i e als Aufgabe zuweisen“
4
. Da nun die Erscheinungen, mit
denen sich die Völkerpsychologie beschäftigt, nur aus den allgemeinen Gesetzen
des geistigen Lebens erklärt werden, wie sie schon in dem Einzelbewußtsein
wirksam sind, so kann die Völkerpsychologie in einem gewissen Sinne eine
a n g e w a n d t e P s y c h o l o g i e genannt werden. Daß dieses „angewandt“
hier jedoch nur in beschränktem Sinne gilt, liegt schon darin, „daß die Völker-
psychologie von den allgemeinen psychologischen Erfahrungen zu keinerlei prak-
tischen Zwecken Gebrauch macht, sondern daß sie. . . eine rein theoretische
Wissenschaft ist“
5
. Die Anwendung besteht mehr in einer Ausdehnung der von
der Individualpsychologie ausgeführten Untersuchungen auf die soziale Ge-
meinschaft.
1
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd I/1, Leipzig 1900, S. 5.
2
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd I/1, Leipzig 1900, S. 5.
3
Vgl. Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Eine Untersuchung der Entwick-
lungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte, Bd I/l, Leipzig 1900, S. 6,11 und 12.
4
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, a. a. O., S. 1.
5
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, a. a. O., S. 2.