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selbständiges Substrat oder Wesen bedeutet. Wie die Psychologie

demgemäß eine Lehre von der Seele (und nicht vom Geiste) ist, so

wird auch die Völkerpsychologie irgendwie „eine Lehre von einer

Volksseele“, nicht vom Volksgeiste zu nennen sein. Da der Begriff

der Seele „keine andere empirische Bedeutung haben kann als die,

den Zusammenhang der unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins

oder . . . der psychischen Vorgänge“ selbst zu bezeichnen, so ist auch

die Völkerpsychologie berechtigt, den Seelenbegriff in d i e s e m

Sinne zu gebrauchen

1

.

Die Volksseele besteht keineswegs aus einer bloßen Summe individueller Be-

wußtseins-Einheiten, sondern auch bei ihr resultieren aus der Verbindung der

Elemente e i g e n t ü m l i c h e Erzeugnisse, eigentümliche psychische und psycho-

physische Vorgänge, die in dem Einzelbewußtsein allein entweder gar nicht

oder mindestens nicht in der Ausbildung entstehen könnten, in der sie sich in-

folge der Wechselwirkung der einzelnen entwickeln können, und die aus jenen

Vorbedingungen, welche in den Einzel-Seelen an und für sich liegen, nicht voll-

ständig erklärbar sind

2

. Die Koexistenz einer Vielheit von Individuen bringt

durch die Wechselwirkung, welche sie (als eine neu hinzutretende Bedingung)

mit sich führt, auch n e u e E r s c h e i n u n g e n m i t e i g e n t ü m l i c h e n

G e s e t z e n hervor. „Diese Gesetze werden zwar niemals mit den Gesetzen

des individuellen Bewußtseins in Widerspruch treten, aber sie werden darum

doch in den letzteren ebensowenig schon enthalten sein, wie etwa die Gesetze

des Stoffwechsels der Organismen in den allgemeinen Affinitätsgesetzen der

Körper enthalten sind.“

3

— Wundt sieht also ganz richtig im „Völkerpsycho-

logischen“ etwas Originäres gegenüber dem „Individualpsychologischen“.

Aus der Verhältnisbestimmung der Völkerpsychologie zur Geschichte leitet

Wundt (in bereits angedeuteter Weise) eine weitere Rechtfertigung der Sonder-

stellung von Sprache, Mythus und Sitte ab. Neben dem ethnologischen Ge-

biete scheidet Wundt, wie wir wissen, auch die anderen Gebiete menschlicher

Geistestätigkeit, die mit dem Zusammenleben der Menschen in Beziehung stehen,

aus. Vor allem jene Erscheinungen, die zwar das gesellschaftliche Dasein des

Menschen zu ihrer Grundlage haben, selbst aber durch das p e r s ö n l i c h e

E i n g r e i f e n Einzelner zustande kommen. Darum gehört die G e s c h i c h t e

d e r g e i s t i g e n E r z e u g n i s s e in Literatur, Kunst und Wissenschaft

nicht zur Psychologie. „Denn gerade dies ist die Hauptaufgabe der Geschichte

auf allen Gebieten, daß sie das Zusammenwirken der Natur- und Kulturbedin-

gungen sowie der psychischen Anlage der Völker mit der persönlichen Begabung

und Betätigung Einzelner in ihrem inneren Zusammenhange verständlich zu

machen sucht.“

4

Die Völkerpsychologie könne hier zunächst als Hilfsdisziplin

1

Hier ist aber das Faktum der organischen Einheit des Trägers der „Indi-

vidual-Seele“ unbeachtet gelassen!

2

Vgl. Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd I/1, Leipzig 1900, S. 10;

Ziele und Wege der Völkerpsychologie, in: Philosophische Studien, Leipzig 1888,

S. 11.

3

Wilhelm Wundt: Ziele und Wege der Völkerpsychologie, a. a. O., S. 11.

4

Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, Bd I/1, Leipzig 1900, S. 4.