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U n r e f l e k t i e r t e
E r z e u g n i s s e
d e s
G e m e i n -
s c h a f t s l e b e n s :
Sprache, Mythus und Sitte.
B e w u ß t e W e i t e r b i l d u n g u n d d i f f e r e n z i e r e n d e
F o r t e n t w i c k l u n g d i e s e r E r z e u g n i s s e (wesentlich
durch schöpferisches Eingreifen Einzelner):
Sprache: Literatur.
Mythus: Religion, Wissenschaft, Kunst.
Sitte: Sittlichkeit, Recht.
Was auf diese Tafel der gesellschaftlichen Inhalte und die darin
vorhandene Sonderstellung von Sprache, Mythus und Sitte ein be-
sonderes Licht zu werfen geeignet ist, ist die Abgrenzung der völ-
kerpsychologischen Behandlung dieser Gebilde gegenüber ihrer ge-
schichtlichen und theoretisch-sozialwissenschaftlichen Behandlung
und die Vergleichung derselben mit der Wirklichkeit der gesell-
schaftlichen Erscheinungen.
Die Abgrenzung der völkerpsychologischen Forschung gegenüber
der geschichtlichen, welche sich ja als nächste Folge seiner Einschrän-
kung des völkerpsychologischen Forschungsgebietes darstellt, ist
nicht nur, wie bereits betont, eine wenig scharfe, sondern sie ist auch
erkenntnistheoretisch betrachtet unhaltbar. M ü n s t e r b e r g
1
hat mit Recht eingewendet, daß sich Geschichte und Sozialpsycho-
logie keineswegs den Stoff zu teilen haben, sondern daß beide den-
selben Stoff von verschiedenen Gesichtspunkten aus bearbeiten.
Darum kann es auch zwischen beiden niemals Grenzstreitigkeiten
geben. Historische und theoretische Forschung lassen sich grundsätz-
lich nicht vermengen (wenn auch faktisch keine der anderen ent-
behren kann).
Wundt hat nun allerdings behauptet, in dem Merkmale des un-
reflektierten Gewordenseins, des Mangels an schöpferischem Ein-
greifen Einzelner, eine allgemeine und zureichende Rechtfertigung
.
1
Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychologie, Bd 1, Leipzig 1900,
S. 133 f. — Gegen Wundts Abgrenzung der Völkerpsychologie überhaupt vgl.
auch E r n s t B e r n h e i m : Lehrbuch der historischen Methode, 4. Aufl., Leip-
zig 1903, S. 607 f. und F r a n z E u l e n b u r g : Über die Möglichkeit und die
Aufgaben einer Sozialpsychologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg 24, Leipzig 1900,
S. 203 und 218.