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Da die Völkerpsychologie „den Menschen in allen Beziehungen, die über die

Grenzen des Einzelbewußtseins hinausführen, und die auf die geistige Wechsel-

wirkung als ihre Bedingung zurückweisen, zum Gegenstande ihrer Untersuchung

nimmt“, bezeichnet der Name „Völkerpsychologie“ nur unvollkommen den

Inhalt dieser Wissenschaft

1

. Der Ausdruck Sozialpsychologie erschiene darum

sinngemäßer, jedoch würde dieser Name wegen der Sonderbedeutung des Wortes

„Gesellschaft“ (als Unterschied und Gegensatz zum Staate) leicht Mißverständ-

nissen begegnen

2

. Auch sei das V o l k „jedenfalls der wichtigste der Lebenskreise,

aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen geistigen Lebens hervorgehen“. Man

dürfe indessen nach einer anderen Seite hin unter Völkerpsychologie nicht eine

Analyse der geistigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Rassen und Völker ver-

stehen. Diese sei vielmehr Aufgabe der „psychologischen Ethnologie“. Bei einer

solchen Analyse werden nicht spezifisch völkerpsychologische, sondern vorwie-

gend individualpsychologische Gesichtspunkte maßgebend, ähnlich wie bei einer

allgemeinen Charakterologie. In beiden Fällen werde eine Art mittleres Indi-

viduum konstruiert.

Die Aufgabe der Völkerpsychologie wird von Wundt zusammen-

fassend dahin bestimmt, „daß sie diejenigen psychischen Vorgänge

zu ihrem Gegenstande hat, die der a l l g e m e i n e n E n t -

w i c k l u n g m e n s c h l i c h e r G e m e i n s c h a f t e n u n d

d e r E n t s t e h u n g g e m e i n s a m e r E r z e u g n i s s e v o n

a l l g e m e i n g ü l t i g e m W e r t e z u g r u n d e l i e g e n “ .

Wir sehen, daß die erörterten Beschränkungen der Aufgaben der

Völkerpsychologie auf Sprache, Mythus und Sitte, und die durch

die drei Merkmale vorgenommene Abgrenzung der Geschichte ge-

genüber in dieser Definition eigentlich gar nicht zur Geltung kom-

men. Denn es ist gar nicht ersichtlich, w e l c h e die „gemeinsamen

geistigen Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte“ sind. Ja der

Passus: die psychischen Vorgänge, die der a l l g e m e i n e n E n t -

w i c k l u n g

m e n s c h l i c h e r

G e m e i n s c h a f t e n zu-

grunde liegen, bedeutet sogar einen offenen Widerspruch gegen

Wundts sonstige Abgrenzung und Bestimmung der Völkerpsycho-

logie. Denn die Entwicklung von Kunst, Religion, Familie usw. bil-

den doch integrierende Bestandteile der allgemeinen Entwicklung.

Jedenfalls kann der Begriff der allgemeinen Entwicklung n i e s o

gewendet werden, daß Sprache, Mythus und Sitte ihn a u s f ü l l e n .

Die Wundtsche Unterscheidung gesellschaftlicher Gebilde läßt sich

in folgendem, aus seiner Völkerpsychologie herauskonstruierbarem

Schema überblicken.

1

Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, a. a. O., S. 2.

2

Wundt denkt also an den Stein-Mohlschen Gesellschaftsbegriff.