135
Da die Völkerpsychologie „den Menschen in allen Beziehungen, die über die
Grenzen des Einzelbewußtseins hinausführen, und die auf die geistige Wechsel-
wirkung als ihre Bedingung zurückweisen, zum Gegenstande ihrer Untersuchung
nimmt“, bezeichnet der Name „Völkerpsychologie“ nur unvollkommen den
Inhalt dieser Wissenschaft
1
. Der Ausdruck Sozialpsychologie erschiene darum
sinngemäßer, jedoch würde dieser Name wegen der Sonderbedeutung des Wortes
„Gesellschaft“ (als Unterschied und Gegensatz zum Staate) leicht Mißverständ-
nissen begegnen
2
. Auch sei das V o l k „jedenfalls der wichtigste der Lebenskreise,
aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen geistigen Lebens hervorgehen“. Man
dürfe indessen nach einer anderen Seite hin unter Völkerpsychologie nicht eine
Analyse der geistigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Rassen und Völker ver-
stehen. Diese sei vielmehr Aufgabe der „psychologischen Ethnologie“. Bei einer
solchen Analyse werden nicht spezifisch völkerpsychologische, sondern vorwie-
gend individualpsychologische Gesichtspunkte maßgebend, ähnlich wie bei einer
allgemeinen Charakterologie. In beiden Fällen werde eine Art mittleres Indi-
viduum konstruiert.
Die Aufgabe der Völkerpsychologie wird von Wundt zusammen-
fassend dahin bestimmt, „daß sie diejenigen psychischen Vorgänge
zu ihrem Gegenstande hat, die der a l l g e m e i n e n E n t -
w i c k l u n g m e n s c h l i c h e r G e m e i n s c h a f t e n u n d
d e r E n t s t e h u n g g e m e i n s a m e r E r z e u g n i s s e v o n
a l l g e m e i n g ü l t i g e m W e r t e z u g r u n d e l i e g e n “ .
Wir sehen, daß die erörterten Beschränkungen der Aufgaben der
Völkerpsychologie auf Sprache, Mythus und Sitte, und die durch
die drei Merkmale vorgenommene Abgrenzung der Geschichte ge-
genüber in dieser Definition eigentlich gar nicht zur Geltung kom-
men. Denn es ist gar nicht ersichtlich, w e l c h e die „gemeinsamen
geistigen Erzeugnisse von allgemeingültigem Werte“ sind. Ja der
Passus: die psychischen Vorgänge, die der a l l g e m e i n e n E n t -
w i c k l u n g
m e n s c h l i c h e r
G e m e i n s c h a f t e n zu-
grunde liegen, bedeutet sogar einen offenen Widerspruch gegen
Wundts sonstige Abgrenzung und Bestimmung der Völkerpsycho-
logie. Denn die Entwicklung von Kunst, Religion, Familie usw. bil-
den doch integrierende Bestandteile der allgemeinen Entwicklung.
Jedenfalls kann der Begriff der allgemeinen Entwicklung n i e s o
gewendet werden, daß Sprache, Mythus und Sitte ihn a u s f ü l l e n .
Die Wundtsche Unterscheidung gesellschaftlicher Gebilde läßt sich
in folgendem, aus seiner Völkerpsychologie herauskonstruierbarem
Schema überblicken.
1
Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie, a. a. O., S. 2.
2
Wundt denkt also an den Stein-Mohlschen Gesellschaftsbegriff.