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gegeben zu haben. Die aus Sprache, Mythus und Sitte als den ur-
sprünglichen Gebilden abgeleiteten Gesellschaftsgebilde Religion,
Kunst usw. sind eben durch jenes Merkmal von der völkerpsycho-
logischen Betrachtung ausgeschlossen. Wenn wir nun zunächst davon
absehen, ob denn nun dieses Merkmal selbst tatsächlich stichhaltig
und gerechtfertigt ist, und bloß das von Wundt abgeleitete System
von Gesellschaftsgebilden mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ver-
gleichen, so finden wir zunächst, daß sein Schema weit davon ent-
fernt ist, auch nur v o l l s t ä n d i g zu sein. Müßten nun die feh-
lenden Gesellschaftsgebilde in gleicher Weise als ursprünglich, das
heißt als unreflektiert geworden und werdend angesehen werden,
paßte das Wundtsche Kriterium auch auf sie, so m ü ß t e n s i e
g l e i c h f a l l s v ö l k e r p s y c h o l o g i s c h e
r
B e t r a c h -
t u n g z u u n t e r l i e g e n h a b e n , ganz wie Sprache, Mythus
und Sitte. Diese fehlenden Systeme gesellschaftlicher Gebilde sind
W i r t s c h a f t , F a m i l i e u n d d i e M a s s e n z u s a m m e n -
h ä n g e . Von allen dreien, besonders aber von dem ersteren, leuch-
tet ein, daß sie als Kollektiverscheinungen mindestens ebenso ur-
sprünglich, unreflektiert geworden, wie die von Wundt sonder-
gestellten Gebilde, und daß sie auch nicht etwa aus anderen Gesell-
schaftsgebilden heraus zur Entwicklung gelangt sind. Das
W u n d t s c h e K r i t e r i u m p a ß t a l s o t a t s ä c h l i c h
a u f s i e , und die Forderung nach ihrer völkerpsychologischen
Behandlung wäre daher gültig. Auch von dem Gesichtspunkte der
Durchführung des Wundtschen Kriteriums selbst erweist sich also
seine Abgrenzung und Bestimmung der Völkerpsychologie als un-
haltbar.
Da nächst diesem auch Wundts Bestimmung des Hauptbegriffes
seiner Völkerpsychologie, der Volksseele, schon insofern eine unzu-
längliche ist, als in derselben k e i n K r i t e r i u m d e s S o z i a l -
p s y c h o l o g i s c h e n enthalten ist, nicht die E i g e n a r t des-
sen, was die eigenartige Wissenschaft fordert, aufgezeigt ist, so er-
scheint die m e t h o d o l o g i s c h e Bearbeitung der Völkerpsy-
chologie durch Wundt als eine grundsätzlich verfehlte
1
. Der tiefere
1
Was Wundts sprachlich-völkerpsychologische E i n z e l f o r s c h u n g an-
belangt, so mag nicht unerwähnt bleiben, daß seine bisherigen Arbeiten sehr
eingehende s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e Untersuchungen bringen, deren
Beurteilung aber Sache des Nicht-Philologen nicht sein kann. So sehr wertvoll