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Sinne, der wir hier in besonderer Gestalt begegnen. An ihr zeigt sich
ganz besonders deutlich die Inkonsequenz, die in der Hereinnahme
des Begriffes der Durchführung liegt, indem sie (die Rechtsverlet-
zung) nicht nur der Stammlerschen Begriffsbestimmung des Rechtes
— das als seinem Wesen und Sinne nach unverletzbar, dennoch Er-
kenntnisbedingung seiner eigenen Verletzung sein soll —, sondern
auch seiner Begriffsbestimmung der sozialen Wirtschaft widerspricht;
diese soll ja „gar nichts als ein rechtlich bestimmt normiertes Zu-
sammenwirken“ sein.
Eine grundsätzliche Lücke weist Stammlers Doktrin außerdem
gegenüber jenen Fällen auf, in welchen die Rechtsquelle selbst eine
zweifelhafte ist, das ist in welcher „positives“ und „nicht positives“
Recht unklar durcheinander gehen, z. B. bei Thronstreitigkeiten,
Bürgerkrieg, Eroberungen und so fort. Stammler meint, daß dann
das alte Recht eben s o w e i t gelte, soweit es durch das neue, an-
kämpfende Recht noch nicht a u f g e h o b e n , weggeschafft ist
* 1
.
Dies ist aber eben s t r i t t i g ; und dann steht in solchem Falle der
Kampf zwischen den bezüglichen Rechtsnormen grundsätzlich völlig
außerhalb der Erkenntnisbedingung des Rechtes. Auch hier sind es
im Prinzipe nur Vorgänge der Durchführung; denn die Geltung
einer Rechtsnorm bedarf ja immer und überall der Mitwirkung der
sie durchführenden Individuen, beziehungsweise der Recht s c h a f -
f e n d e n Autorität.
Diesen Hinweisen auf Tatsachen des Zusammenlebens, welche
grundsätzlich nicht unter der unmittelbaren Bedingung rechtlich-
konventioneller Regelung stehen können, haben wir noch andere
hinzuzufügen, die auf Tatsachen gehen, als deren deutliche formale
Bedingung zwar die rechtliche Regelung erscheint, wo sich aber den-
noch zeigt, daß das Recht keinen anderen Erkenntniswert für die
empirische Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens hat als
die Tatsachen anderer gesellschaftlicher Teilinhalte. Es zeigt sich die
Vermengung kausaler und teleologischer Erkenntnisart daran, daß
dern um einen konkreteren Fall, und zwar darum, daß im Vorgange der Ver-
letzung eine a n d e r e Regelung — z. B. eine konventionale, religiöse, mora-
lische oder g e w a l t s a m e (= zur gemeinsamen Zwecksetzung durch Gewalt
nötigen) Regelung — an die Stelle der beseitigten, „verletzten“ tritt. Da sie
eben beseitigt ist, kann sie aber natürlich nicht mehr Erkenntnisbedingung sein.
1
Rudolf Stammler: Wirtschaft und Recht, a. a. O., S. 509.
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