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gelten, „daß die Tendenz zur Vernunfteinheit der sozialen Regelung
und diese dem Arbeitsleben der Gemeinschaft unmittelbar inne-
wohne: so wie in der sittlichen Vollendung des Individuums die
Herrschaft der Vernunft sich durch das Mittel des Willens auf das
Triebleben erstrecken und es ganz durchdringen würde“
1
.
Im sozialen wie im individuellen Leben hat nun der jeweils höhere
Faktor zu dem anderen das Verhältnis der F o r m z u r M a t e r i e ,
„Die Materie ... der sozialen Regelung [sind] die sozialen Arbeits-
triebe; Materie ... der sozialen Kritik die sozialen Willensregelun-
gen. Damit ist nun die Frage schon dem Prinzipe nach beantwortet,
die durch . . . S t a m m l e r . . . zuerst in Präzision gestellt worden
ist: die Frage nach der letzten M a t e r i e d e s s o z i a l e n L e -
b e n s.“
2
Natorp weicht nun aber von Stammler — und zwar, wie
wir entgegen seiner eigenen Meinung glauben — n i c h t u n w e -
s e n t l i c h ab. Für Stammler ist die soziale Materie „das auf Be-
dürfnisbefriedigung gerichtete Zusammenwirken der Menschen“.
Für Natorp aber ist es die T a u g l i c h k e i t der Menschen und
Sachen, das heißt ihre „ E i g n u n g z u m Z u s a m m e n w i r -
k e n “ , zur Arbeitsgemeinschaft. Damit ist ein erkenntnistheoreti-
tisch und methodisch bedeutsamer Schritt getan: es wird k a u s a l e
Erkenntnis der „sozialen Materie“ zugelassen und gefördert! Denn
nun hat die regelnde Form (= der gemeinsame Wille der Menschen)
die n a t ü r l i c h e E i g n u n g , also den Inbegriff von k a u s a -
l e n Z u s a m m e n h ä n g e n zum Gegenstande. Nun wird die
Naturbedingtheit des Zusammenwirkens untersucht; gegenüber der
Willensbedingtheit (Zweckbedingtheit) des menschlichen Zusammen-
handelns, sozusagen die natürliche t e c h n i s c h e Bedingtheit der-
selben, eben die kausale Eignung zu demselben
3
.
Ich halte diese Argumentation von dem gegebenen methodischen
Ausgangspunkte aus für logisch richtig und der Stammlerschen Lehre
selbst gegenüber — die nur teleologische Erkenntnis in der Staats-
wissenschaft duldet — praktisch gesehen für einen Fortschritt. Die
Folge dieses Zugeständnisses ist aber, daß der z u g r u n d e
l i e g e n d e t e l e o l o g i s c h e S o z i a l b e g r i f f
n u n w i e -
1
Paul
Natorp: Sozialpädagogik, a. a. O., S. 167.
2
Paul
Natorp: Sozialpädagogik, a. a. O., S. 151.
3
Paul
Natorp: Sozialpädagogik, a. a. O., S. 152