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von einer e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Auffassung des
Problems eines Gesellschaftsbegriffes bei ihm nur in einem ganz
uneigentlichen Sinne des Wortes gesprochen werden darf. Jedoch
erscheint Stammler in nicht unwichtigen Punkten als der Kantische
F o r t b i l d n e r der Lehre Iherings.
Ihering steht auf empiristisch-utilitarischem Standpunkte und
insofern in vollem erkenntnistheoretischen Gegensatze zu Stamm-
ler. Er begründet eine soziale „Teleologie“ — aber er faßt sie als
p s y c h o l o g i s c h e K a u s a l i t ä t . Erkenntnistheoretische Er-
wägungen möchten auch bei ihm eine grundlegende Rolle spielen —
aber es fehlt ihm an philosophischer Strenge. Aus diesem Grunde
kann er als Vorläufer Stammlers, dessen Leistung ja gerade in der
strengen erkenntnistheoretischen Erfassung des Gesellschaftsbegriffes
besteht, nur sehr bedingt in Betracht kommen. Hingegen ist dies im-
merhin in hohem Maße bezüglich mehrerer Grundbegriffe in
s a c h l i c h e r Hinsicht der Fall. Hauptsächlich sind es folgende
Grundgedanken der Iheringschen Lehre, die sich bei Stammler im
wesentlichen wiederfinden:
G e s e l l s c h a f t i s t d i e V e r b i n d u n g d e r M e n -
s c h e n d u r c h g e m e i n s a m e Z w e c k e , ihre Organisation
und ihr Zusammenwirken zu gemeinsamen Zwecken
1
. — Auch nach
Stammler ist Gesellschaft das äußerlich geregelte Zusammenwirken
der Menschen, das heißt ihre Verbindung durch gemeinsame Zwecke.
S c h ö p f e r d e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n N o r m e n u n d
s o m i t (nach obigem Begriff der Gesellschaft) der G e s e l l -
s c h a f t ü b e r h a u p t s i n d d i e m e n s c h l i c h e n Zwe c k e .
Dies ist aber bei Ihering im Sinne psychologischer Kausalität zu ver-
stehen. Nichtsdestoweniger finden sich die Forderung selbständiger
finaler Betrachtung und zureichende Versuche der Durchführung; so
daß wir als einen dritten bei Stammler wiederkehrenden Gedanken
nennen müssen:
Die w i s s e n s c h a f t l i c h e E r f o r s c h u n g d e r E r -
s c h e i n u n g e n
g e s e l l s c h a f t l i c h e r
N o r m i e r u n g
(somit nach Ihering der gesellschaftlichen Erscheinungen überhaupt)
1
Rudolf von Ihering: Der Zweck im Rechte, Bd 1, Leipzig 1877, Kapitel VI,
S. 83 ff.; Bd 2, Leipzig 1883, S. 175 ff. und öfter. — Daß Herbart schon eine
gleichartige Definition gegeben hat, wurde in einer vorherigen Anmerkung so-
eben erwähnt.