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Diese Fehlerhaftigkeit im Aufbau der Grundbegriffe rächt sich
auch sofort an der D u r c h f ü h r u n g der Lehre. Die drei Mo-
mente des sozialen Lebens: Arbeit, Willensregelung und vernünftige
Kritik erweitern sich nach Natorp nämlich in Hinsicht auf das funk-
tioneile System, das das soziale Leben darstellt (— hier ist also der
soziale Körper schon ganz als ein kausaler Zusammenhang gedacht!
—) zu den drei Grundfunktionen der w i r t s c h a f t l i c h e n ,
r e g i e r e n d e n u n d b i l d e n d e n Tätigkeit. Diese Unterschei-
dung sozialer „Provinzen“ oder Objektivationssysteme muß zurück-
gewiesen werden. Sie ist aus methodischen Begriffen hergenommen,
aus welchen unmittelbar m a t e r i e l l e Begriffe sozialer Einzel-
gestaltungen, sozialer Gebilde, nicht abgeleitet werden können.
Wenn „Wille“ oder „praktische Vernunft“ nur eine Anordnung un-
serer Bewußtseinstatsachen, eine R i c h t u n g derselben ist, so
kann aus d i e s e r W e s e n s b e s t i m m u n g her noch durch
nichts auf ihre Fortsetzung im sozialen Leben zu kausalen sozialen
Gebilden geschlossen werden. Im Begriff der Vergemeinschaftung
dieser individuellen Funktionen liegt nur, daß sie zur äußeren (ge-
meinsamen) R e g e l u n g , z u r p r a k t i s c h e n D i s k u s s i o n
werden: von der Bildung sozialer Provinzen, von der Regierungs-
provinz und Bildungsprovinz ist darin gar nichts beschlossen. Na-
torp schließt also mit Unrecht aus dem Methodischen ins Materielle,
Empirisch-Kausale. Interessant ist auch, daß hier, wie schon ange-
deutet, ein spezieller K a u s a l begriff von der Gesellschaft, ein ma-
terieller Gesellschaftsbegriff entworfen wird. Denn Natorps Zerle-
gung des sozialen Lebens in bestimmte Objektivationssysteme ist
offenbar eine Erfassung des faktischen Aufbaus und (kausalen) Zu-
sammenhangs des sozialen Körpers. Daß dies aus den gegebenen
erkenntnistheoretisch-methodologischen Prämissen der S t a m m -
l e r - N a t o r p schen Lehre nicht geschehen darf, liegt auf der
Hand; daß es aber dennoch geschah, hat seine letzte Ursache bei
Auf diese rein erkenntnistheoretische Seite der Sozialphilosophie können wir
an dieser Stelle nicht eingehen. Aber selbst wenn der angeführte Gedankengang
zugegeben wird, so erscheint aus ihm heraus dennoch nicht der Widerspruch mit
dem S o z i a l b e g r i f f e beseitigt. Bei der Begriffsbestimmung des Sozialen han-
delt es sich darum, welche Erkenntnisweise als die primäre, aus der Natur des
Objektes erfließende zu bestimmen ist, und welche bloß als sekundäre, als
heuristisches Prinzip, daneben Platz haben kann.