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Diesen Eindruck der tieferen Wesenheit der Einzelheits- oder
Selbstheitslehre gilt es festzuhalten, damit wir wissen, was wir auf-
geben und verlieren, wenn wir sie als einen Grundirrtum sollten
verwerfen müssen.
Prüfen wir, so erscheint uns Heutigen auf den ersten Blick hin
die Einzelheitslehre als geradezu selbstverständlich. Warum? Weil
unsere ganze überlieferte Bildung in sie gleichwie in ein Netzwerk
hineingesponnen ist. Im gesamten wirtschaftlichen und politischen
Leben, in unseren Rechts- und Sittenvorstellungen, in den gesamten
Geisteswissenschaften, in unseren Kunstrichtungen — überall herr-
schen individualistische Begriffe und Denkweisen, herrscht die selbst-
heitliche Einstellung vollständig vor. Wir alle haben den indivi-
dualistischen Gedanken schon mit der Muttermilch eingesogen! An-
gesichts solcher Lage der Dinge fordert die Gewissenhaftigkeit von
uns die genaueste Prüfung, damit wir nicht die Beute der Gewohn-
heit werden.
Wo ist nun der wesentliche Fragepunkt? Die verschiedenartigen
praktischen Folgerungen aus den individualistischen Grundvoraus-
setzungen können es nicht sein, denn diese sind ja nur abgeleitet.
Es kann nur die letzte Grundvoraussetzung und die Hochburg des
Individualismus selbst sein, an die sich der Zweifel wendet: Der Be-
griff des absoluten Einzelnen, die Selbstschöpfung, die Selbstgenug-
samkeit! Blickt man nun dieser dionysisch gepriesenen und in der
Tat verführerischen, bannenden Selbstgenugsamkeit auf den Grund
— dann zeigt sich, daß man gerade diesen entscheidenden / Begriff
doch noch weiter verfolgen muß, als er von den Einzelheitslehrern
verfolgt wurde! Es entsteht nämlich die Frage: Wie w i r d d a s
g e i s t i g a u f s i c h a l l e i n G e g r ü n d e t e a n e i n G a n -
z e s a n g e k n ü p f t ? , und zwar an zweierlei Ganze: An das ge-
sellschaftliche Ganze und zuletzt an das Weltganze. An dieser Frage
liegt alles, denn in dem Verhältnis des Individuums zum Ganzen
muß sich bewähren, ob sein eigenes Wesen richtig erfaßt wurde
und ob sich ein begreifliches Verhältnis der Eingliederung ergibt.
Die vollständige Kritik und die entscheidende Einsicht über Wert
und Unwert des Individualismus wird erst später möglich sein, so-
bald wir auch das ihm entgegengesetzte Begriffsgebäude, den Uni-
versalismus, kennengelernt haben; aber die Prüfung der aufgewor-
fenen Zweifelsfrage wird uns bereits über die Grundstellung des