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geführt wird, nämlich die Selbstaufopferung des Einzelnen für die
Ganzheit, dessen Wesen wirklich bezeichnet. — Das Wesen des Uni-
versalismus ist auch nicht Altruismus, ebensowenig wie das des In-
dividualismus schon Egoismus ist. Beide können so aufgefaßt wer-
den, aber sie müssen es nicht.
Wesentlich für den Universalismus ist vielmehr: Daß das Primäre,
die ursprüngliche Tatsache, von der sich alles ableitet, nicht der Ein-
zelne ist, sondern die Ganzheit, die Gesellschaft. Nun ist der Ein-
zelne nicht mehr selbstbestimmt, selbstgeschaffen (autark), steht
nicht mehr ausschließlich auf dem Boden seiner Ichheit; es liegt
daher die primäre Wirklichkeit nicht mehr in ihm, sondern in dem
Ganzen, in der Gesellschaft. So ergeben sich zwei Merkmale: (a) Das
Ganze, die Gesellschaft ist die eigentliche Wirklichkeit und (b) das
Ganze ist das Primäre, der Einzelne ist in irgendeinem (näher zu
bestimmenden) Sinne nur als Bestandteil des Ganzen vorhanden, er
ist daher das Abgeleitete.
Die Urfrage der Ganzheitslehre ist daher nur diese eine: „Wie
denke ich das Ganze, welches ist der Begriff dieses Ganzen, der Ge-
sellschaft?"; während die Grundfrage des Individualismus, wie be-
kannt, lautet: Wie denke ich das Individuum? Die einzig mögliche
Antwort war hier: Als absolutes Individuum. Für die Ganzheits-
lehre ist die Möglichkeit, ein Ganzes zu denken, jedoch nicht so ein-
deutig bestimmt. Es gibt hier mehrere Arten, die gesellschaftliche
Ganzheit zu denken.
§ 9. Die vier Hauptarten, den Begriff der Gesellschaft
universalistisch zu denken
I. Die Umweltlehre oder Milieutheorie
Nach dieser Lehre ist der Mensch eine eindeutige, abhängige
„Funktion“ der Umwelt. Lamarck, nach welchem die Bildung der
Arten durch Anpassung an die Einflüsse der Umwelt vor sich geht,
vertritt diese Auffassung in der Biologie; Buckle, Taine, / Marx,
Gumplowicz und andere vertreten sie (zum Teil mit Vorbehalten)
in der Gesellschaftslehre.