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Diese Besinnung führt zu der Forderung, den Begriff des Einzel-
nen tiefer, mannigfaltiger zu fassen, als es die geistige „Selbsterzeu-
gung“ ermöglicht: Der Einzelne muß so begriffen werden, daß er
zum Ganzen führt, daß eine w e s e n h a f t e Verbundenheit mit
den anderen Geistern und so mit der Gesellschaff wie mit dem Welt-
ganzen gefunden wird. Es bleibt nur eines übrig, die ungeheure
Kraft, die der Individualist als selbsterzeugende Keimkraft auffaßt,
in den Dienst der Anknüpfung zu stellen. Da ist es nun lehrreich,
daß alle Heraklesdichtungen die Frage der Anknüpfung des indivi-
duellen Schaffens an ein Übergeordnetes, Höheres (also Ganzes) in
den Mittelpunkt stellen. Wenn Herakles seine Taten getan, seinen
ungeheuren Willen vollbracht hat, ergibt sich die Frage: W o z u
w a r d a s a l l e s ? (So bei Euripides.) In dem Augenblick, wo so
gefragt wird, wird schon die eigene Selbstgewachsenheit und Selbst-
genugsamkeit verneint und eine höhere Ordnung gesucht, die die
meinige in sich aufnimmt, die der meinigen Sinn und Wert verleiht.
Mit d i e s e r F r a g e o r d n e t s i c h d e r E i n z e l n e d e m
W e l t g a n z e n e i n . Sie ist, religiös ausgedrückt, die Flucht zur
Gottheit, das Aufgeben des Selbstischen als eines Autarken. Die ein-
zige Aufgabe, die hier vorgezeichnet wird, ist: Die Anknüpfung des
Einzelnen an das Ganze zu finden.
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Z w e i t e r U n t e r a b s c h n i t t
Der Universalismus
§ 8. Das Wesen des Universalismus oder der Ganzheitslehre
Gewöhnlich wird angenommen, es sei der Universalismus oder die
Ganzheitslehre das gerade Gegenteil des Individualismus; aber eben
das trifft nicht zu. Wenn die Einzelheitslehre sagt: „Der Einzelne
ist alles“, so sagt die Ganzheitslehre nicht: „Der Einzelne ist nichts“,
oder sie muß es wenigstens nicht sagen. Wenn der Individualist
sagt, die Gesellschaft (außer den Einzelnen) sei nichts, so braucht der
Universalist nicht zu sagen, die Gesellschaft sei alles. Daher denn
auch nicht das, was gewöhnlich als Merkmal des Universalismus an-