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wandter Weise auch bei Aristoteles und den mittelalterlichen Scho-
lastikern, ferner bei Hegel und selbst bei den Romantikern in mehr
oder weniger bedingungsloser oder bedingter Form. Sie braucht,
wenn sie richtig verstanden wird, den Einzelnen in seiner Selbstän-
digkeit und in seiner Eigenart nicht zu vernichten, weil sie ja jedem
seine Stelle als Glied des Ganzen, als Organ, als Besonderheit an-
weist. Eine andere Frage ist es allerdings, wie diese Besonderheit zu
erklären sei.
Für die Gesellschaftslehre ist es geboten, ihre Sätze nicht von be-
stimmten philosophischen Lehrbegriffen abhängig zu machen, daher
ist es das Richtigste, an dieser Stelle zu der Ideenlehre gar nicht
Stellung zu nehmen. Jedoch steht so viel fest, daß das allgemeine
Denkschema, das die Ideenlehre dafür bietet, wie das Ganze und
sein Teil zu denken sei, das universalistisch einzig angemessene und
brauchbare ist. Andererseits muß man sich dessen bewußt sein, daß
mit diesem Denkschema die Aufgabe der universalistischen Gesell-
schaftserklärung noch nicht gelöst ist. Denn dieses Denkschema bie-
tet noch eine zu starre Auffassung, die zwar den Vorteil hat, daß
sie die ursprüngliche Wirklichkeit des Ganzen leicht erklärt, aber
nicht, wie die Einzelheit und Besonderheit innerhalb dieser Ganz-
heit, durch diese Ganzheit sich b i l d e , w o i n d e r a l l g e m e i -
n e n Substanz denn überhaupt ein Ansatzpunkt für das Sonder-
tümliche, die Individualität, gegeben sei; und ferner: welches die
Lebens- und Bewegungskräfte des Ganzen seien. Die antike Ideen-
lehre erklärt die Besonderheit des Einzelnen als den jeweils ver-
schiedenen Widerstand der Materie gegenüber der Idee. Unbeurteilt,
ob diese Lehre philosophisch richtig sei, genügt sie gesellschaftswis-
senschaftlich nicht, da ein an sich Allgemeines oder ein Ganzes an
sich und eine qualitätslose (also noch leere) Materie in der gesell-
schaftlichen Erfahrung weder gegeben noch kon- / struierbar sind.
Eine Lehre, die zur Lösung der Aufgabe fortschreiten will, auch
die Besonderheit und Unvertretbarkeit der Einzelnen zu erklären
und ferner die bewegte Lebendigkeit jeder Ganzheit in ihren Begriff
mit aufzunehmen, möchte der hier vorgetragene „kinetische Uni-
versalismus“ sein.