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IV.
Der kinetische Universalismus oder die Lehre von der
innenkräftigen Ganzheit
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Während die streng Platonische Vorstellungsweise das Ganze als
etwas Fertiges denkt und dessen Einzelnes durch nachträgliche „Teil-
nahme“ an der Idee des Ganzen bestehend, möchte ich davon aus-
gehen, daß das Ganze nie etwas Fertiges ist, sondern immer in Fluß
befindlich, etwas, das sich im Fortgange (Prozeß) erst selber schafft
und aufbaut, was durch und durch ein Werdendes, eine lautere Be-
wegung, ein Uberschäumendes ist, das jede fertige Gestalt in jedem
Augenblick überschreitet; das, wenn es nicht mehr Bewegung wäre,
auch nicht mehr da wäre, weil es ganz dem Gesetze des Lebens un-
terworfen ist. Auch der Organismus ist ja lauteres Leben; in dem
Augenblick, wo er starr wäre, wäre er tot. Die Frage ist nun: Worin
liegt jenes Moment der Lebendigkeit, welches das Ganze schaffen
und immer wieder neu schaffen soll? Wenn wir darauf eine Ant-
wort finden, haben wir auch das Wesen jeglicher Ganzheit erkannt.
Es liegt alles daran, diesen Begriff der Ganzheit zu erfassen und zu
ergründen.
§ 10. Der Begriff des Ganzen im Sinne
des kinetischen Universalismus
Jene Bewegung, von der wir sagten, daß sie „Ganzheit“ in jedem
Augenblick schafft und erbaut, besteht darin: daß alle geistige Wirk-
lichkeit, die im Einzelnen vorhanden ist, nur da ist und entsteht als
ein Auferwecktes. Nur durch Entzündung, Entfachung, Anregung
seitens eines anderen Geistes wird Geist in einem Einzelnen wirk-
lich; nicht durch ein rein selbstbewirktes Hinabsteigen in die Tiefe
der eigenen Seele, sondern nur unter der urspünglichen und ersten
Bedingung, welche das gegenseitige Entzündetwerden von Geist an
Geist ist. Daher ist alles, was Geistiges im Einzelnen entsteht, stets
in irgendeinem (sei es unmittelbaren, sei es noch so mittelbaren)
Sinne ein Widerhall von dem, was ein anderer Geist in ihm anregt.
Dieses heißt nun: Das Geistige im Menschen ist nur in Gemein-
schaft, niemals in sich allein begründet; es ist n i e m a l s v o l l -
k o m m e n d u r c h m i c h , sondern stets zugleich durch eine
(wenn auch noch so mittelbare, aber immer) wesen h a f t e Bezug-