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Menschen. Hier könnte man uns gleich zu Beginn einwenden, daß
das künstlerische Genie aus sich selbst und allein schafft. Wer ein
Drama schreibt, tut dies in seiner stillen Klause. Dies ist nun wohl
unbestreitbar, aber man wird doch zugeben müssen, daß Shake-
speare seine Werke nie geschrieben hätte, wenn er hätte annehmen
müssen, daß sie nie aufgeführt, nie gelesen, nie verstanden würden.
Ohne irgendeinen (mindestens gehofften, künftigen) Zuschauer,
Leser, Versteher, Prüfer, ohne irgendwelches Gegenglied ist es voll-
kommen unmöglich, daß er die Kraft der Versenkung fände, das
Feuer der Hervorbringung entfachte. Auch der vereinsamte Künst-
ler ist nicht vollkommen einsam, überdies hofft und glaubt er noch
immer, daß andere bedeutende Menschen ihn verstehen und würdi-
gen werden. Er hofft auf Zuhörer und Leser. Goethe hat dies klar
in folgendem Spruche ausgedrückt:
Was wär’ ich ohne dich, Freund Publikum!
All mein Empfinden Selbstgespräch,
All meine Freude stumm.
Genau genommen, wäre es nicht einmal Selbstgespräch, sondern ein
Versinken in das Nichts. Fassen wir diese Einsicht allgemeiner, so
dürfen wir sagen: Ohne Anteilnahme anderer (ohne ihr „Inter-
esse“) kein künstlerisches Schaffen, ja kein Schaffen überhaupt. Ein
anderes geistiges Schaffen als ein angeregtes, entzündetes ist nicht
möglich, die Hinwendung zu einem Zweiten, die darin liegende
Gedoppeltheit, Zweiseitigkeit oder Gezweitheit des eigenen Schaf-
fens / ist eine unerläßliche Bedingung alles Hervorbringens, damit
alles geistigen Lebens überhaupt.
Ein zweites Beispiel, das ich absichtlich sehr schwierig wähle, ist
das Verhältnis von M u t t e r u n d K i n d . Dieses Verhältnis ist
in seinem Innersten nicht durch mechanische Handreichung, nicht
durch bloß äußerliche Hilfeleistung bezeichnet (wenn das der Fall
wäre, könnte man die Mutter durch einen Automaten ersetzen):
wesentlich ist vielmehr das rein geistige Gegenseitigkeitsverhältnis,
das über dem Nothaften hinaus darinnen gelegen ist. Zuerst die
Mutter ins Auge gefaßt, besteht das geistige Verhältnis darin, daß
die Mutter jene fürsorgende, nie versagende, bedingungslose Liebe,
die „Mütterlichkeit“, empfindet. Man darf hier sagen: Das K i n d
s c h a f f t d i e M ü t t e r l i c h k e i t . Denn jene hegsamen Ge-