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Daß „Gleichheit“, wie sich nun zeigte, ein Mischbegriff ist, ent-
hielte an sich noch kein vernichtendes Urteil, aber daß er logisch
Unvereinbares, daß er Individualistisches und Universalistisches un-
organisch, ohne höhere Einheit mischen will, das ist vernichtend.
Zuletzt noch eine Frage, welche die persönliche Seite berührt: in-
wiefern Gleichheit „Gerechtigkeit“ in sich schließt? Ein so wunder-
licher und widerspruchsvoller Begriff, wie die Gleichheit ist, könnte
keinen Tag lang Ansehen und Geltung bewahrt haben, wenn nicht
im Geheimen unserer Brust etwas für ihn spräche. „Gleichheit alles
dessen, was Menschenantlitz trägt“ — ist es nicht, als ob das Rein-
menschliche nun erst ganz in die Erscheinung träte, als ob eine For-
derung menschlicher Gerechtigkeit damit erfüllt würde?
Und in der Tat! Welch große Wahrheit liegt in diesem Gedanken
— aber in welch seltsamer Vermischung mit grellstem Irrtum!
„Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", kann, wenn
man es näher prüft, immer nur heißen: „Wir alle sind zuletzt doch
nur Menschen, Menschen, die alle gleich sehr verantwortlich sind
einem höchsten sittlichen und göttlichen Gesetze.“ Aber was liegt in
d i e s e r Gleichheit, die für hoch und niedrig, reich und arm, groß
und klein Gültigkeit hat? Nicht mehr als: Daß Menschenwürde allen
zukommt, dem Verbrecher wie dem Heiligen, dem Genie wie dem
Einfältigen. Gewiß, der Verbrecher, wie der Heilige, beide sind
Menschen, beide haben ein letztes, gleiches Mindestmaß von Mensch-
lichkeit in sich, einen unverletzlichen Kern „Mensch“! Niemals aber
heißt dies: Sie seien gleiche Menschen, oder auch nur: sie seien
g l e i c h s e h r Menschen, denn der Verbrecher / ist weniger
Mensch und mehr Tier als der Heilige. Im Verbrecher auch den
Menschen zu achten, ist gut und recht; ihn aber gleich sehr zu ach-
ten wie den Heiligen, ist unrecht. Solche Gleichheit würde ja ge-
rade die Menschenwürde verletzen! — jene Würde, für die der Ein-
zelne den Wert seiner Persönlichkeit erst einsetzen, die er mit sei-
ner ganzen Kraft erst erringen muß. Niemals den Menschen zu ver-
gessen, auch nicht dort, wo vieles von edler Menschlichkeit (in Ver-
brechern und tierischen Naturen) verloren ging, und in diesem
Mindestmaße sonach allen gleich unverlierbare Menschlichkeit zu-
zuschreiben, ist wohl ein Gebot der Gerechtigkeit, ist Humanität
im wahren Sinne des Wortes; aber das heißt nicht, allen gleich hohe
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