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heits-widriges, ungerechtes Recht; das Recht der natürlichen Gerech-
tigkeit dagegen, wie es das Gerechtigkeitsgefühl des menschlichen
Herzens allein bewährt, ist ein abgestuftes, angemessenes, ungleiches
Recht
1
.
IV. Die Brüderlichkeit
Auf der Fahne der französischen Revolution standen die Worte
„Freiheit“, „Gleichheit“, „Brüderlichkeit“. „ B r ü d e r l i c h k e i t “
i s t a b e r k e i n p o l i t i s c h e r G r u n d s a t z , sondern heißt
nur soviel wie Liebesgesinnung. Diese ist aber kein alleiniges Vor-
recht der einen oder anderen Gesellschaftsauffassung. Beide, die in-
dividualistische, wie die universalistische Auffassung ermöglichen
von ihren Sittlichkeitsbegriffen her die Freundesgesinnung der Bür-
ger untereinander.
Doch bleibt auch hier eine entschiedene Überlegenheit der ganz-
heitlichen Auffassung zurück. Denn für diese ist die Forderung der
Brüderlichkeit unausweichlich schon im Begriffe der Ganzheit (so-
fern vollkommene Gezweiung stattfindet) enthalten, da sie das
Höchstmaß der geistigen Verbindung aller Menschen zu ihren ober-
sten Grundsätzen zählt. Ganzheit verlangt, dem Gliede seine volle,
seine brüderliche Gültigkeit zu geben. — Dagegen ist Brüderlichkeit
beim Individualismus nur eine Folgerung, die gezogen werden kann,
aber nicht muß, wie der Machiavellismus und die ihm verwandte
Form des Anarchismus zeigt.
V.
Das Höchstmaß der Staatsaufgaben
Ist für den Individualismus der Staat nur ein Sicherheitsverein,
was das Mindestmaß an Staatsaufgaben ergibt, so ist der Staat für
den Universalismus eine Organisation, die auf das Höchstmaß gei-
stiger Gemeinschaft abzielt, das heißt in der herkömmlichen Aus-
drucksweise „Kulturstaat“, ein Staat, dem außer den mechanischen
Aufgaben des Zusammenlebens (Sicherheit und dergleichen) auch die
„Pflege des geistigen Lebens“ wesensgemäß obliegt.
Als Gefahr dieser Auffassung stellt sich das Gespenst des „Polizei-
1
Weiteres darüber siehe unten § 18, S. 114 ff., ferner S. 209 ff., § 33, B, 3 und
öfter.