Table of Contents Table of Contents
Previous Page  2228 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 2228 / 9133 Next Page
Page Background

66

[45]

und edle Menschenwürde zuzuerkennen, es heißt mit einem Worte

nicht: Gleichheit.

Die Erfahrung zeigt überall die größte Ungleichheit in der geisti-

gen Natur der Menschen, in ihren gesellschaftlichen Verrichtungen,

in jedem Zeitabschnitte ihrer Entwicklung, in der Höhe ihres Kön-

nens und Wollens. Mutter und Kind, Lehrer und Schüler, Meister

und Lehrling, Forscher und Nachfolger, Künstler und Betrachter,

Schauspieler und Zuhörer, Richter und Gerichtete, Ingenieur und

Arbeiter, Gute und Böse, Heilige und Laien, Weise und Banausen

— alle diese Gegensätze, Abstufungen, Verrichtungen der Unglei-

chen bauen und bilden die menschliche Gesellschaft, den Staat, die

Wirtschaft, die Kunst, die Sittlichkeit, alle überindividuellen Lebens-

mächte. Überall sehen wir durch Ungleichheit, durch die von ihr

bedingte Führung und Nachfolge, durch die von ihr bedingte Glie-

derung und Entsprechung die menschlichen Lebensformen bestimmt.

Daß die Erfahrung innere und äußere Ungleichheit in Millionen

Abschattierungen zeigt, leugnet ja wohl niemand. Aber die geheim

oder offen geäußerte Meinung der Verfechter der Gleichheit ist

dabei: daß in Zukunft durch die Vervollkommnung der Erziehung,

durch die Verallgemeinerung der höchsten Bildung alle Menschen

auf eine gewaltige, ja auf die gleiche geistige und sittliche Höhe ge-

bracht werden könnten. Es muß offen gesagt werden, daß diese

Meinung von der „unbegrenzten Vervollkommnungsmöglichkeit

der Einzelnen“ nichts als unklare Schwärmerei ist, die nur ernst

genommen werden kann von Menschen, welche in die Tiefen der

menschlichen Seele keinen Blick getan haben, welche das mensch-

liche Herz weder in seinen Schwächen, noch in seiner Größe ken-

nen, und dem wilden Wolfe des menschlichen Geschickes eine dünne

Wassersuppe zum Fraße bieten möchten; von Menschen, welche

auch das Grundgesetz des Seins, das sich in Gegensätzen ergeht,

nicht ahnen. Gegen solche Utopien Worte zu verschwenden, wäre

müßig.

Eine weitere, nicht minder entscheidende Überlegung erblicke ich

aber in der Prüfung der Frage, wieweit denn Gleichheit in Recht

und Wirtschaft praktisch überhaupt durchführbar sei. Zunächst die

R e c h t s g l e i c h h e i t . Welche großen Anstrengungen auch die

Demokratien aller Zeiten (von Athen, wo Beamtenstellen ausgelost

wurden, bis zum heutigen Amerika) machten, um Rechtsgleichheit