100
[72J
in Deutschland zeigt, war wiederum vor allem ein Kind der Ro-
mantik. Dieses universalistische Gepräge des völkischen Gedankens
erklärt auch, warum die liberalen Parteien, die ihn anfangs auf ihre
Fahne schrieben, immer mehr zurückweichen mußten, ihn immer
mehr an besondere völkische (nicht-individualistische) Parteien ab-
geben mußten. „National“-liberal ist ein Widerspruch in sich, eine
contradictio in adjecto. Das liberale, naturrechtlich-individualistisch
bestimmte Denken kann nie mit dem völkischen, das heißt univer-
salistisch gerichteten, auf eine bestimmte Sonderbindung gegründe-
ten Gedanken Ernst machen, wenn es mit seinen eigenen Voraus-
setzungen nicht in Widerspruch geraten soll. Das liberale Denken
hat vielmehr, wie zum Freihandel nach außen und zur Wirtschafts-
freiheit nach innen, so auch im politischen Verhältnis nach außen
und innen den Trieb zum nichtnationalen, „zwischenvölkischen“
Denken. Infolge des gänzlichen Mangels an gesellschaftswissen-
schaftlicher Bildung in der heutigen Zeit fehlt es an dieser einfachen
Einsicht allgemein
1
.
1
Es gibt allerdings einen Gesichtspunkt, von dem aus der völkische Gedanke
als eine verhältnismäßig individualistische Einschränkung des universalistischen
Gedankens erscheint, nämlich sofern man die gesamte Menschheit als eine einzige
(ideale) Ganzheit auffaßt und dann den Einzelnen, statt ihn dieser Ganzheit
einzugliedern, einem Sonderganzen, der Volksgemeinschaft, allein zuordnet. In
diesem Falle würde eine bloße Unterganzheit, eine verhältnismäßig individuelle
Ganzheit, nämlich „Volk“, statt der allgemeinsten Ganzheit (des Kulturkreises
oder der Menschheit überhaupt), als wesentlich betrachtet. Diese Gegenüberstel-
lung („Volksganzes“ gegen „Menschheitsganzes“) ist aber nur von einem abstrakt
theoretischen Standpunkt aus möglich, also in der allgemeinen Gesellschafts-
lehre*; in der geschichtlich angewandten politischen Theorie wie Praxis ist sie
von Anbeginn ausgeschlossen, weil es da ein abstraktes Menschheitsganzes an
sich nicht gibt (daher auch keine Organisation der ganzen Menschheit). Im Mit-
telalter war in der katholischen Kirche mit dem Latein als gemeinsamer Bil-
dungssprache eine alle abendländische Volkheiten umfassende Einheit vorhan-
den, damals war daher jene Gegenüberstellung auch praktisch von Bedeutung;
heute fehlt aber eine wirksame Organisation gänzlich (auch für den katholischen
Standpunkt, weil die religiöse Autorität des Papstes nicht mehr für alle Völker
verbindlich, ist); sie kommt daher für die politische Praxis und Theorie nicht
mehr in Betracht, und die völkische Auffassung erscheint politisch nur nach
ihrem universalistischen (nicht etwa liberalen) Gehalt gültig.
* Z u s a t z z u r d r i t t e n A u f l a g e : Die höhere Ganzheit (Menschheit)
besteht in Wahrheit nur, indem sie in ihren Gliedern lebt, den V o l k h e i t e n .
Die höhere Ganzheit schluckt nicht die niederen, vernichtet sie nicht, im Gegen-
teil: nur in der Entfaltung des Eigenlebens der Volkheiten als in ihren Gliedern
lebt die Menschheit. Im Begriffe des Geistes liegt Gliederung, daher fordert er
das Volkstum.