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Ganzheit, nicht des zufälligen Willens, weder der Mehrheit, noch
einer anderen Summe Einzelner, die durch Zufall und Willkür be-
stimmt wird. Ebensowenig wie „Schule“ durch den übereinstimmen-
den Willen der Schüler, „Heer“ durch den übereinstimmenden Wil-
len der Krieger, „Kirche“ durch den übereinstimmenden Willen der
Gläubigen bestimmt wird, sondern durch den geistigen Sachgehalt
„Erziehung“, den geistigen Sachgehalt „Krieg“, den geistigen Sach-
gehalt „Religion“; ebensowenig kann der S t a a t durch den über-
einstimmenden Willen der Mehrheit seiner Bürger bestimmt und
gelenkt werden, sondern einzig und allein durch den geistigen Sach-
gehalt des Lebens, durch die s a c h l i c h e n E r f o r d e r n i s s e
d e r g e i s t i g - s i t t l i c h e n I n h a l t e der menschlichen An-
gelegenheiten
1
.
Der Grundsatz der Herrscherbestellung kann, universalistisch ge-
sehen, nur von der S a c h e hergenommen werden, kann daher zu-
letzt nur ein Grundsatz des Wertes sein: Man soll die Stimmen nicht
zählen, sondern wägen, n i c h t d i e M e h r h e i t s o l l h e r r -
s c h e n , s o n d e r n d a s B e s t e . Der Wert, das Gute schlecht-
hin ist der einzig bestimmende Grundsatz für die Gestaltung der
Organisation und für die Bildung des Herrscherwillens. — Was
aber das „Beste" ist, wird ja nach den wohl jeweils gültigen Anschau-
ungen und Wertsystemen wechseln. Diesen Einwand höre ich von
allen Seiten uns entgegenschallen. Aber ist das ein so vernichtender
Mangel, daß ein absolut gültiges Wertsystem in der Geschichte der
Kultur nicht da ist? Das L e b e n k a n n n i e a n d e r s a l s a u s
d e m L e b e n s e l b s t h e r a u s b e s t i m m t w e r d e n , aus
jenen Werten heraus, die jeweils lebendig sind! In einer christlichen
Welt z. B. kann und soll nur das Christliche herrschen. Wenn auch
eine Mehrheit da wäre, die sich dem Teufel verschworen hätte, so
wäre es absurd, daß diese herrschte, sondern die höchsten Werte des
Christentums, das / Beste (im Sinne des Christentums) soll weiter
herrschen. Wo das Zusammenleben nicht als eine mechanische Sicher-
heitsgenossenschaft aufgefaßt wird, sondern als ein geistiges Gemein-
1
Zusatz zur dritten Auflage. Dem übereinstimmenden Willen der Bürger als
einem Subjektiven und Willkürlichen, der sogenannten V o l k s s o u v e r ä n i -
t ä t , setzt die universalistische Auffassung ein Übereinzelnes und Verbindliches
entgegen: die Ausgliederungserfordernisse der Ganzheit oder die Sachsouveräni-
tät.