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Ist die Annahme eines vorher fertigen politischen Willens der
Menge, durch den die Führer zu Beauftragten dieses Willens be-
stellt werden sollen, / eine falsche Unterstellung, so sind ande-
rerseits Führer gerade deswegen für jede Masse absolut unent-
behrlich. Dies schon rein technisch, weil die Masse nicht unmittelbar
als solche handeln kann, sondern Vertreter, Bestellte (eben die Füh-
rer) dazu braucht. Es ist eben die Grundeigenschaft jeder Organi-
sation (die wir oben berührten und auf die wir jetzt wieder kom-
men), stufenweise aus Führern und Geführten zu bestehen. Ich sage
stufenweise, denn man darf sich nicht vorstellen, daß es in Wahrheit
bei Einer Masse und Einem Führer (oder einer Gruppe derselben)
sein Bewenden hat (nach dem Satze „Ein Volk, Eine Regierung“).
Vielmehr schieben sich zwischen die obersten Führer und die Masse
mehrere Schichten von Unterführern, welche mannigfache gegen-
seitige Einflüsse vermitteln. Das wirkliche Leben kann dem Gesetz
der Stufung nirgends entgehen, es muß, wenn es nicht sterben soll,
der Gleichmacherei entfliehen.
Wenn nun die politische Organisation (und damit auch die in ihr
und hinter ihr stehende „Masse“) ihrer Natur nach aus Führern und
Geführten zusammengesetzt ist, der politische Wille der Organi-
sierten (der Masse) erst von den „Abgeordneten“ gebildet wird, so
folgt daraus mit Notwendigkeit: daß die M a s s e a u c h i n
d e r D e m o k r a t i e z u r p o l i t i s c h e n O h n m a c h t
v e r u r t e i l t i s t . Dies zeigt wieder die Undurchführbarkeit der
mechanischen Willensbildung durch Mehrheit, es zeigt e i n
s e l b s t t ä t i g e s E i n t r e t e n e i n e r g e i s t i g e n M a c h t ,
des Führerwillens an Stelle der nur mechanisch oder passiv beweg-
samen und ursprünglich fast willenlosen Masse — nur fragt es sich,
ob diese geistige Macht in der Demokratie je eine gute sein kann.
Wenn die Demokratie behauptet, daß sie die Masse „politisch mün-
dig“ zu machen berufen war, so ist das grundfalsch. Auch in der De-
mokratie ist die Masse politisch unmündig, vielleicht mehr als selbst
im absolutistischen Staate, jedenfalls aber mehr, als in dem Staate mit
einer Stufenleiter autoritativer Gewalten. (Nur die utopische Mei-
nung von der grenzenlosen Vervollkommnungsfähigkeit der Men-
schen durch Erziehung könnte für eine fernste Zukunft die Demo-
kratie als richtige Staatsform in Aussicht nehmen.)
Die K r i t i k der Demokratie ist so alt, wie die Demokratie sei-