[87/88]
121
den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige ver-
nimmt“, aber die Menge selbst, das Volk, „weiß niemals vor lauter
Wollen, was es will“. Einen klassischen geschichtlichen Beleg dafür
bilden die Zustände in Athen zur Zeit des Perikies und nach dessen
Tode (wie jeder in Thukydides’ „Peloponnesischem Krieg“ nach-
lesen möge). Perikies vollendete erst die Demokratie in Athen. Er
hat durch seine gewaltige Persönlichkeit jedem Achtung eingeflößt,
Kunst und geistiges Leben im größten Stile gefördert und die Menge
gemeistert. Er hat den politischen Willen, den er der Menge anbil-
dete, auch zu dem herrschenden gemacht, indem er sich selber zum
Führer einsetzen ließ. So wurde in Wahrheit nicht durch Demokra-
tie, sondern durch Diktatur einer großen Persönlichkeit damals Un-
vergängliches in Athen geschaffen. Ihm folgte aber der Gerber
Kleon, ein Demagoge, der den niederen Instinkten der Menschen
nachging, das heißt, einen politischen Willen ganz anderer, minder-
kblick
auf
Marxens
Lehre
und
Person)
leistung
und
Persönlichkeit
zu
on
ähnlichen,
aber
einheit-
wurde, den sie nachher als „Bestellten" einsetzte. Wie damals muß
auch heute der politische Wille derer, die abstimmen, erst vorher
von jenen gebildet werden, die gewählt werden.
Aus dieser theoretischen wie geschichtlichen Betrachtung folgt der
Satz: es ist in der Geschichte nie eine reine Demokratie verwirklicht
worden; die Bildung des Staatswillens aus dem Willen aller Einzel-
nen, die Demokratie, ist vielmehr so sehr gegen die Natur der Dinge,
daß stets Klüngelwesen und Führerdespotie w i l d g e w a c h s e -
n e r G r u p p e n sich einstellen muß, um den / Zerfall des atomi-
sierten Gemeinwesens zu verhindern. — Unsere heutige Zeit ist auch
ein Zeugnis dafür. Wie sehr in ihr neben Klüngelbildungen und
Wahlbearbeitungen auch chaotische Zufälle, Manöver und Kunst-
stücke aller Art bei der demokratischen Willensbildung eine Rolle
spielen, zeigt z. B. folgende Nachricht der „Neuen Freien Presse“,
die eben heute
1
meldet:
Überraschendes Ergebnis des republikanischen Konvents.
Nominierung von Warren G. Harding zum Präsidentschaftskandidaten.
(Telegramm der „Neuen Freien Presse“)
1
Am Tage der damaligen Vorlesung. (Morgenblatt der „Neuen Freien Presse“.
Wien, vom 14. Juni 1920.)