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den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige ver-

nimmt“, aber die Menge selbst, das Volk, „weiß niemals vor lauter

Wollen, was es will“. Einen klassischen geschichtlichen Beleg dafür

bilden die Zustände in Athen zur Zeit des Perikies und nach dessen

Tode (wie jeder in Thukydides’ „Peloponnesischem Krieg“ nach-

lesen möge). Perikies vollendete erst die Demokratie in Athen. Er

hat durch seine gewaltige Persönlichkeit jedem Achtung eingeflößt,

Kunst und geistiges Leben im größten Stile gefördert und die Menge

gemeistert. Er hat den politischen Willen, den er der Menge anbil-

dete, auch zu dem herrschenden gemacht, indem er sich selber zum

Führer einsetzen ließ. So wurde in Wahrheit nicht durch Demokra-

tie, sondern durch Diktatur einer großen Persönlichkeit damals Un-

vergängliches in Athen geschaffen. Ihm folgte aber der Gerber

Kleon, ein Demagoge, der den niederen Instinkten der Menschen

nachging, das heißt, einen politischen Willen ganz anderer, minder-

kblick

auf

Marxens

Lehre

und

Person)

leistung

und

Persönlichkeit

zu

on

ähnlichen,

aber

einheit-

wurde, den sie nachher als „Bestellten" einsetzte. Wie damals muß

auch heute der politische Wille derer, die abstimmen, erst vorher

von jenen gebildet werden, die gewählt werden.

Aus dieser theoretischen wie geschichtlichen Betrachtung folgt der

Satz: es ist in der Geschichte nie eine reine Demokratie verwirklicht

worden; die Bildung des Staatswillens aus dem Willen aller Einzel-

nen, die Demokratie, ist vielmehr so sehr gegen die Natur der Dinge,

daß stets Klüngelwesen und Führerdespotie w i l d g e w a c h s e -

n e r G r u p p e n sich einstellen muß, um den / Zerfall des atomi-

sierten Gemeinwesens zu verhindern. — Unsere heutige Zeit ist auch

ein Zeugnis dafür. Wie sehr in ihr neben Klüngelbildungen und

Wahlbearbeitungen auch chaotische Zufälle, Manöver und Kunst-

stücke aller Art bei der demokratischen Willensbildung eine Rolle

spielen, zeigt z. B. folgende Nachricht der „Neuen Freien Presse“,

die eben heute

1

meldet:

Überraschendes Ergebnis des republikanischen Konvents.

Nominierung von Warren G. Harding zum Präsidentschaftskandidaten.

(Telegramm der „Neuen Freien Presse“)

1

Am Tage der damaligen Vorlesung. (Morgenblatt der „Neuen Freien Presse“.

Wien, vom 14. Juni 1920.)