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L o n d o n , 13. Juni [1920],
Aus C h i c a g o wird gemeldet: Der republikanische Nationalkonvent hat,
wie United Press berichtet, eine sensationelle Wendung genommen. Nachdem in
den ersten vier Abstimmungen General Wood an führender Stelle vor Senator
J o h n s o n herausgekommen war, ohne jedoch die absolute Mehrheit zu er-
reichen, ergab die fünfte Abstimmung eine bemerkenswerte Veränderung, indem
L o w d e n Wood überflügelte. Lowden erhielt 303, Wood 299, Johnson 133
Stimmen. Die Wahl wurde unter großer Erregung und minutenlangen Demon-
strationen fortgesetzt. Bei der a c h t e n
A b s t i m m u n g
t r a t
d i e
g r o ß e S e n s a t i o n e i n , indem der Outsider Senator H a r d i n g v o n
O h i o plötzlich auf die bemerkenswerte Zahl von 133 Stimmen emporschnellte.
Lowden hatte in diesem Wahlgang noch 307, Wood 295 Stimmen.
Der rasche Wechsel der führenden Kandidaten übte auf die Teilnehmer am
Konvent eine v e r w i r r e n d e W i r k u n g . Man war sich klar darüber, daß
ein Outsider plötzlich die größten Chancen hatte. Tatsächlich wurde nach neun
erfolglosen Abstimmungen in der zehnten endlich die absolute Mehrheit er-
reicht. Es waren 493 Stimmen für die Nominierung des Präsidentschaftskandida-
ten notwendig. In der z e h n t e n A b s t i m m u n g erhielt Senator H a r -
d i n g 692 Stimmen gegen 156, die auf General W o o d entfielen. Es herrscht
ungeheure Erregung im Konvent.
Soll man das eine Königswahl nennen oder einen Rennbericht?
Noch Schlimmeres! Denn man erkennt hier die Geldmächte, die als
Drahtzieher verborgen selbst noch hinter der politischen Führer-
Oligarchie stehen
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Z u s a t z z u r d r i t t e n A u f l a g e : Welche Verzweigungen des Beste-
chungswesens in Amerika bestehen, beleuchtet eine Meldung des „Kunstwart“
(Jg 1931, S. 615): „Geld für Korruption in Amerika. Ein Sondergerichtshof,
eingesetzt, um die Amtstätigkeit des früheren Bürgermeisters von Chicago zu
untersuchen, hat aufgedeckt, daß die Mitglieder der Chicagoer Unterwelt den
städtischen Beamten jährlich mindestens 10 Millionen Dollars für „Schutz“ ge-
zahlt haben. Wie die „Neue Freie Presse“ unter dem 28. April zu erzählen
wußte, betragen die Kosten des sogenannten Racketeerings, das heißt der Erträge
der Erpressungen durch die Banden in den Vereinigten Staaten, jährlich 18 Mil-
lionen Dollar: jeder Amerikaner zahle jährlich 96—144 Dollar für die Ver-
brecher. Diese Summe mache
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der gesamten Staatsschuld und 15% des Volks-
vermögens aus. Sie würde gestatten, durch 3 Jahre hindurch die Kosten der Re-
gierung der Vereinigten Staaten aus ihr zu decken.“
Daß die englische Demokratie, die durch den staatsmännischen Einfluß des
alten normannischen Adels vor dem Kriege nicht frei zur Entfaltung kam, nun-
mehr ähnliche Wege einschlägt wie die amerikanische, zeigt folgende Meldung
der „Neuen Freien Presse“ vom 19. Oktober 1924 (Morgenblatt):
Der Boxer Fry Unterhauskandidat
(Telegramm unseres Korrespondenten)
London, 18. Oktober
Der in England sehr bekannte Boxer Fry wird mit Unterstützung der Libe-
ralen als unabhängiger Kandidat für B r i g h t o n aufgestellt.