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der Fürst selbst. In der Demokratie aber ist im Grunde niemand verantwort-
lich, ja die Drahtzieher stehen oft hinter den Kulissen und sind unsichtbar, un-
erreichbar, sind hungrige Geldmächte, sind grundsätzlich nicht Träger allgemeiner
öffentlicher Ziele, wie das selbst in den schlimmsten Zeiten die entartete Feudal-
aristokratie gewesen war.
Der zweite Beweisgrund Kelsens, der „politische Relativismus", die Fähigkeit
der Demokratie, Minderheiten in sich aufzunehmen, die besonders wertvoll sein
soll, weil doch schließlich niemand die absolute Wahrheit besitze, erweist sich
gleichfalls nicht als stichhaltig. Allerdings, wenn es sich um Parteien handelt, die
einander ohnehin sehr nahe stehen, z. B. Rechtssozialisten und Unabhängige,
Leute, die zuletzt dasselbe wollen, nur taktisch voneinander abweichen, dann
mögen sie sich zur Not vertragen. Stehen aber die Parteien einander wie Feuer
und Wasser gegenüber, z. B. Freidenker und Anhänger des Autoritätsgrundsat-
zes während der französischen Revolution — was nützt dann die Demokratie?
Mehrheit und Minderheit vertragen sich bei großen, politisch durchgreifenden
Verschiedenheiten auch in der Demokratie schlechthin nicht. Die Parteien stehen
einander dann in absoluter Feindseligkeit gegenüber und tragen den Kampf
zuletzt mit den Waffen aus, wie die Kämpfe in den griechischen Demokratien,
wie die Kämpfe in Rom gezeigt haben, die zuletzt Cäsar zum natürlichen Herrn
des Staates machten. Der „politische Relativismus“ der Demokratie findet also
in der politischen Geschichte keine Bewährung — das gerade Gegenteil davon
wird geschichtlich wie theoretisch bewahrheitet! Die Demokratie führt notwen-
dig zu einer solchen Atomisierung, das heißt zu einer solchen Spaltung und
Zerreißung des Staates in Parteien (die keine starke, einheitliche Gewalt mehr
im Zaume hält), daß der Cäsarismus zur einzigen Erlösung wird, welche schließ-
lich die Völker noch ersehnen können. Philipp, Alexander, Cäsar und seine Nach-
folger, Napoleon und viele andere Namen der Geschichte beweisen dies. Aus den
Zuständen der Zerrissenheit, aus der Anarchie des demokratischen Regiments
muß sich mit Notwendigkeit die absolutistische Staatsform entwickeln.
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Alle die gehörten Verteidigungs- und Beweisgründe gehen um
das Entscheidende und Letzte in der ganzen Frage herum. Entschei-
dend bei Beurteilung der Demokratie ist einzig die Grundtatsache:
daß von ihr der Staat fälschlich nicht als g e i s t i g e Organisations-
macht, sondern als äußerliche, nothafte Einrichtung gefaßt wird; daß
es daher zuletzt eigentlich gleichgültig ist, ob diese Äußerlichkeit bes-
ser oder schlechter gemacht wird, ob die Masse die guten oder
schlechteren Kräfte darstellt. Wenn der Kern seiner Wesenheit
ohnehin ganz im Einzelnen liegt, wenn er innerlich ohnehin ver-
lassen und einsam bleibt, dann läßt sich die Demokratie wohl recht-
fertigen: Äußere Ordnung, Mindestmaß von Staatsaufgaben, Sicher-
heit, das allein ist wesentlich. Ob ein Gerber, Sattler, Steinmetz Prä-
sident dieser Vereinsorganisation ist, kann gleichgültig sein. Und
dann, aber nur dann allein, ist auch der Grundsatz folgerichtig und
annehmbar! Wohl bedeutet gerade er, daß die niederen Kräfte mehr
zur Geltung kommen, als ihrem Werte entspricht, weil die weniger