130
[94]
Der Kapitalismus ist wirtschaftlicher Individualismus
1
und als sol-
cher vor allem ein Inbegriff von Freiheit, er ist die Durchführung
des Grundsatzes wirtschaftlich freier, ungehemmter Betätigung. Vor
allem ist es das freie Privateigentum, von dem die wirtschaftliche
Freiheit ausgeht (errungen durch Verneinung und Überwindung der
zünftlerischen und merkantilistischen Bindungen der früheren Zeit),
und auf dessen Grundlage sie hauptsächlich drei Formen annimmt:
die Gewerbefreiheit (mit Berufsfreiheit und Freizügigkeit), der freie
Wettbewerb und der freie Arbeitsvertrag. Die grundsätzlich voll-
ständige, wenn auch praktisch niemals erreichte, wirtschaftliche Frei-
heit ist das oberste Kennzeichen des Kapitalismus.
Anders steht es mit der wirtschaftlichen Gleichheit. Gleichheit
heißt hier lediglich, daß jeder die gleiche formelle M ö g l i c h k e i t
hat, dasselbe zu tun wie der andere: die gleiche Gewerbefreiheit,
Vertragsfreiheit usw.; aber hat er auch die gleichen Mittel, von der
wirtschaftlichen Freiheit Gebrauch zu machen, den gleichen Kapital-
besitz? Das trifft nicht zu. Daher ist die Gleichheit in der kapitali-
stischen Wirtschaftsordnung keine sachliche Gleichheit, sondern nur
eine mögliche gleiche Freiheit (während die politische Gleichheit in
der Demokratie äußerlich annähernd erreicht wird). Da es nun ge-
schichtlich gegeben ist, daß ungleiche Wirtschaftsmittel dem Einen
zur Verfügung stehen, daher gerade aus den Freiheitsvoraussetzun-
gen neue wirtschaftliche Ungleichheit entstehen muß (weil der Wett-
bewerb mit ungleichen Mitteln geführt wird), so muß sich im Laufe
der kapitalistischen Entwicklung die Ungleichheit notwendig mehr
vergrößern. Greifen wir nur das Verhältnis zwischen Arbeiter und
Kapitalisten und das zwischen Kapitalisten und Verbraucher heraus.
Der Kapitalist ist, wie Böhm-Bawerk im Sinne der individualisti-
schen Theorie
2
richtig sagt, derjenige, der „Gegenwartsgüter“ (den /
1
Siehe oben S. 88.
2
Zusatz zur dritten Auflage. In Wahrheit ist der Unternehmer nicht nur
durch den „Kauf“ von Elementen und den „Verkauf“ von Erzeugnissen gekenn-
zeichnet, sondern durch seine organisatorische Leistung (der Ein- und Umglie-
derung). Das Unternehmereinkommen kann daher nach innen hin als Organi-
satorenprämie (oder auch technische Erfinderprämie), nach außen hin als Ver-
gütung für die Eingliederung in den Markt, die „Marktreife“, bestimmt wer-
den. Auch das A r b e i t e r e i n k o m m e n (der Lohn) hat ganz andere Grund-
lagen, als Ricardo (und mit ihm später Marx) annahm. Führende Leistungen des
Arbeiters begründen z. B. eine G e s c h i c k l i c h k e i t s - u n d T a l e n t -