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Der Mangel im Geistig-Sittlichen, das Loslösen aller von allen,
die Atomisierung, und die damit geschaffene Veräußerlichung des
Lebens, das ist die eigentliche Krise des Kapitalismus, die Krise in
der Wurzel. Der Kapitalismus ist ebenso gegen die Natur der Wirt-
schaft, wie der politische Individualismus gegen die Natur des
Staates.
Die Folge dieser Grundeigenschaft der kapitalistischen Ordnung
ist, daß sich der Kapitalismus auch praktisch niemals vollständig zu
verwirklichen vermochte, trotz des vollkommenen Sieges der indi-
vidualistischen Zeitanschauungen! Er konnte niemals seine Grund-
forderungen vollständig und rein durchsetzen: Die volle Wettbe-
werbsfreiheit, die volle Gewerbefreiheit, die volle Freiheit des Ar-
beitsvertrages, die volle Zoll- und Handelsfreiheit wurden / nie und
nirgends, selbst nicht in den liberalsten Ländern und Zeitläufen ver-
wirklicht. Stets sind und waren vorhanden Konzessionen, Mono-
pole, Sonderstellungen (später gar Kartelle, Trusts, Ringe und Ver-
abredungen aller Art), ferner genossenschaftliche Bildungen mit und
ohne Staatsmitwirkung, Zölle, Frachten und Verwaltungsschutz
(z. B. Differenzialsätze in Fracht- und Steuerwesen); weiter: Ge-
werkvereine mit ihren Zusammenfassungen, ihren Arbeitseinstel-
lungen und Verrufen; dann alle die zahllosen gesetzlichen Ein-
schränkungen und Vorschriften über die Arbeitszeit, Arbeitsart,
Entlohnungsweise, Kinder-, Frauen- und Jugendlichenarbeit, über
unlauteren Wettbewerb, über Lehrlingswesen, gewerblichen Unter-
richt und sonstigen Regelungen, die alle das Gepräge von mildern-
den und helfenden Maßnahmen, von Organisierungsmaßnahmen,
also gegen die Wirtschaftsfreiheit, haben. Der Kapitalismus ist ja
geschichtlich nur schrittweise an die Stelle der ständischen Stadt-
wirtschaft, der merkantilistischen Monopole und Privilegien und
der ländlichen (verhältnismäßig) geschlossenen Hauswirtschaft ge-
treten. Das heißt aber: Während seines Entstehens war ein großer
Teil der Wirtschaft immer ständisch gebunden. Und dieser neuen
Grundtatsache gesellt sich die weitere zu: Je mehr der Kapitalismus
an die Stelle der alten organisierten Wirtschaftsformen trat, um so
mehr erzeugte er, selbsttätig und unbewußt, aber mit unabänder-
licher Notwendigkeit wieder Ersatzorganisationen im Sinne stän-
discher Bindung. Denn alle die früher genannten Bindungen und
Einschränkungen bedeuten, wie schon erklärt, nicht nur Einschrän-