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abstumpfte, gewerkschaftlicher Lohnkampf und Sozialpolitik stell-
vertretend für die alten, aufgelösten ständischen Bindungen mit Er-
folg eintraten, hat sich doch die politische und kulturelle Absonde-
rung und Gegnerstellung des Arbeiterstandes immer mehr verschärft.
Dem Arbeiter ging es vor dem Kriege (von heute abgesehen) besser
als vor fünfzig Jahren, und doch ist seine Stimmung gegen die an-
deren Gruppen der Gesellschaft ungleich feindlicher geworden. In
manchen Punkten hat sich ja allerdings seine berufliche Stellung
trotz äußerer Besserung unerquicklicher gestaltet. Die immer weiter
getriebene Arbeitsteilung und Vergrößung der Betriebe hat noch
viel mehr rein mechanische, geisttötende Arbeitsverrichtungen ge-
bracht, die dem Arbeiter seinen Beruf verhaßt machen; dazu kom-
men „Taylorsystem“ und ähnliche Verschärfungen; allerdings hat
sich daneben der Stand hochqualifizierter Arbeiter vermehrt, die
nicht nur besser entlohnt sind, sondern auch Lust und Freude an
dem Werke / ihrer Hände haben können. Aber diese innere Ent-
wicklung zum Besseren wie zum Schlechteren trat ganz zurück vor
den zwei schon erwähnten Dingen: Dem Klassenkampfe und der
erschreckenden, materialistischen Gesinnung (als Folge ihrer marxi-
stischen Grundrichtung), die zwar noch den fadenscheinigen Man-
tel eines Ideals, nämlich der zukünftigen Befreiung aller Menschen
durch die kommunistische Gesellschaft, sich umlegt, aber in Wahr-
heit durch die Vernichtung aller Ehrfurcht vor dem Recht, das den
Arbeitern nur ein „Klassenrecht“ ist, vor der Wissenschaft, die ihnen
„Klassenwissenschaft“ bezahlter Routiniers, der Professoren, ist, vor
der Religion, die ihnen nur als Werk „bezahlter Pfaffen“ zum
Zwecke der Verdummung der arbeitenden Klasse gilt, und ebenso
vor allen anderen geistigen Mächten jede hemmende Schranke nie-
derriß, welche der Geist vor die Gier der Materie gesetzt hat. Hier
müssen wir wiederholen, was oben bei Marx gesagt wurde: Nicht
so sehr die theoretischen Irrtümer in der Volkswirtschaftslehre des
Marxismus sind das eigentliche Übel, sondern vielmehr das Fehlen
des Glaubens an eine höhere Wesenheit des Lebens. Überall aber,
wo der kaltherzige Skeptiker jeden Glanz des Überirdischen aus-
löscht, folgt ihm mit Notwendigkeit der rohe Materialist und Ra-
tionalist, um das Leben nach Gier und nach einem Rechenbeispiel
einzurichten. Dieser Zug ist aber der Grundzug individualistischen
Wesens. Hier hat das eigentliche soziale Unglück unserer Zeit, die