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zur Erscheinung kommen, zusammenzufallen. Denn Sittlichkeit und
Recht enthalten jene geltenden Ideale, geltenden Sollsätze oder
Normen und Imperative, nach denen die organisierenden Hand-
lungen sich richten. Die o r g a n i s i e r e n d e n H a n d l u n -
g e n i n i h r e m n o r m a t i v e n S i n n g e h a l t o d e r n o r -
m a t i v e n V e r h ä l t n i s u n t e r e i n a n d e r — nämlich als
Inbegriff von sittlich-rechtlichem Handeln — s i n d e i n e r l e i
m i t d e m S y s t e m d e r N o r m e n s e l b s t . Man darf aber
nicht so weit gehen, zu behaupten, Norm und Organisation, ins-
besondere dann Recht (die Norm) und Staat (die Organisation), sei
überhaupt einerlei, der Staat sei das Recht, sei ein Inbegriff recht-
licher Ordnungen, wie dies die neukantische Rechtsschule tut! Der
Staat, so sagt Kelsen, ist nicht einmal etwa die Durchführung, die
Konkretisierung des Rechtes, so daß das Recht das allgemeine und
der Staat die besondere Anwendung und Verwirklichung desselben
wäre. Denn ein nicht durchgeführtes Recht sei ohnehin kein Recht,
die Konkretisierung erst ist das Dasein des Rechtes. „Recht ist die
Zwang anordnende Norm“ — und eben das ist der Staat
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!
Dieser Gedankengang ist aber nicht stichhaltig. In Wahrheit fällt
das Recht mit dem Staate nicht zusammen und überhaupt die Or-
ganisation nicht mit ihrer Satzung. Die Sittlichkeit, das Recht und
jede Satzung ist ihrem tiefsten Wesen nach eine Rangordnung von
Wertungen, e i n e R a n g o r d n u n g d e r I n h a l t e d e s
L e b e n s , s o f e r n d i e s e a l s Z i e l e d e s H a n d e l n s
b e t r a c h t e t w e r d e n . Wenn z. B. das Recht sagt, wer stiehlt,
wird bestraft, so ist dabei die Verknüpfung des Tatbestandes mit
bestimmten Rechtsfolgen nicht das Wichtigste und Letzte; sondern
die Rangordnung der Ziele des Lebens und Handelns, die damit
vorgenommen wird. „Nichtstehlen ist besser als Stehlen“, das ist
die Wertung und Rangbestimmung, die in jenem Rechtssatze liegt.
(Die Rangbestimmung in Sittlichkeit und Recht schließt außerdem
die Richtung auf V o l l k o m m e n h e i t in sich.)
Anders dagegen die Organisation. Sie besteht nicht aus Sollsätzen,
sondern: aus den organisierenden H a n d l u n g e n , die freilich
zueinander auch in einem bestimmten rangordnungsmäßigen (nor-
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Hans Kelsen: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen
1922, § 15.