321
selhafte an der Sinnesempfindung? Vor allem der Umstand, daß wir
von den stofflichen Vorgängen, welche die Reize in den Sinnes-
organen, Nerven und Rindenfeldern auslösen, k e i n e n Ü b e r -
g a n g zu den seelischen Vorgängen, nämlich den Empfindungen,
finden! Hätten wir die vollständigen physikalisch-chemischen For-
meln alles Geschehens in den Reizen, Sinnesorganen, Nerven, zuge-
hörigen Ganglien der sensorischen Rindenfelder — so hätten wir
immer erst noch Formeln, wir sprächen von ihnen wie der Blinde
von der Farbe, wir wüßten immer noch nichts von Licht, Farbe,
Gestalt, Klang, Wärme, nichts von den seelischen „Korrelaten“
jener Formeln, nichts von den Empfindungen selbst! Jene Formeln
sind um eine Welt verschieden von den Empfindungsinhalten. Der
physiologische Chemiker und Physiker muß erst als Sehender, Hö-
render, Schmeckender usw. innerlich erfahren, was er äußerlich,
stofflicherweise, in seinen Formeln vor sich hat!
Daraus folgt abermals eindeutig: Das G e s c h e h e n , w e l -
c h e s d i e S i n n e s e m p f i n d u n g i n s i c h
s c h l i e ß t ,
l i e g t a u f e i n e r a n d e r e n E b e n e a l s d a s j e n i g e
G e s c h e h e n , w e l c h e s i n d e n p h y s i k a 1 i s c h
-
c
h
e
-
m i s c h e n V e r ä n d e r u n g e n d e r b e t r o f f e n e n O r -
g a n e b e s t e h t . Anders gesagt: empfinden muß die Seele selbst!
sie muß es durch eine eigene, ihr selbst zugehörige Tat, ihre eigene
Spontaneität vollbringen! Wie ja auch aus Fichtes großer Lehre von
der „Selbstsetzung des Ich“ und dessen „Selbstentgegensetzung“ her-
vorgeht (von der allerdings die sensualistische und die gesamte heu-
tige Seelenkunde keine Ahnung hat!)
1
.
Wenn nun die Seele selbst empfinden muß, wie könnte das auf
andere Weise geschehen, als in einer unmittelbaren Verbindung mit
den immateriellen Wurzeln, den intelligiblen Wesensgründen der
empfundenen Naturdinge?; und zwar gewöhnlicherweise n a c h
M a ß g a b e der Veranlassungen, welche von den Reizen und den
sich an sie schließenden Umsetzungen ausgehen. Diese sind Vor-
bedingungen der Empfindung; keinesfalls aber die andere Seite der
1
Eine nähere Erklärung gab ich in meinem Buch: Philosophenspiegel, Die
Hauptlehren der Philosophie begrifflich und geschichtlich dargestellt, 2. Aufl.,
Wien 1950, S. 111 ff. und 124 ff. (jetzt: 3. Aufl., Graz 1970, S. 121 ff. und
136 ff. = Gesamtausgabe Othmar Spann, Bd 13).
21 Kleine Schriften