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So geht es in der ganzen G e s e l l s c h a f t . Es ist eine Aufgabe der
Gesellschaftslehre, die Inhalte der Gesellschaft auf ihre logische Priorität hin zu
erkennen. Da ergeben sich Sätze wie: „Religiosität (das Metaphysische des
Geistes) geht vor Volkstum“; „aber Religiosität will sich in Volkstum verwandeln“;
„Volkstum geht vor Staat“; aber Volkstum will sich in Staat verwandeln, das
heißt Religiosität, Volkstum ist hier das setzende Prius, das aber in seinen
nachgeordneten Ausgliederungen nicht untergeht. — In der W i r t s c h a f t , die
ein System von Mitteln für Ziele ist, gehen die Ziele vor den Mitteln (den
Vorzielen), sie sind das setzende Prius, das im gesetzten System der Mittel nicht
untergeht. Die Ziele bleiben bestehen und setzen die Wirtschaft immer wieder
aufs neue — sie bleiben bei sich selbst, sie fließen nicht aus, sie versteinern nicht
in den Mitteln, ihren Teilen.
Ein anderes Beispiel bildet der Vordersatz gegenüber den nachfolgenden
Gliedern einer Schlußkette. Die Glieder der ganzen Kette sind selbständig, aber
sie ruhen am Grund der Prämisse, ohne die sie sofort „sinnlos“ werden, also auf-
hören zu sein. Der Vordersatz ist in allen Gliedern der Schlußkette enthalten,
und doch geht er in ihnen nicht unter. Der Vordersatz verhält sich in diesem
Sinn als fortwirkender Schöpfergrund.
Überall zeigt sich der grundsätzliche Tatbestand: das Ganze geht
in den Gliedern nicht unter. Dieser Satz erklärt auch erst völlig das
Bild, das alles Denken und Leben zeigt, daß nämlich die Tätigkeit
sich nicht in ihrer Tat f i x i e r e , sondern sich stets aufs neue
setze, die Tat stets wiederhole, im Organismus zum Beispiel den
Stoffwechsel, im Geist das Denken und Handeln.
Zusatz über Dasein und Vorsein
Daß das Ganze in den Gliedern nicht untergeht, diese Wahrheit erklärt end-
lich auch erst völlig den früheren Satz: das Ganze als s o l c h e s hat kein Da-
sein. Beide Sätze ergänzen einander und führen zu einer wichtigen o n t o l o -
g i s c h e n F o l g e r u n g .
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Das Sein des ausgegliederten Ganzen oder D a s e i n ist ein anderes als das
Sein des Ganzen an sich, des nichtausgegliederten, in den Gliedern sich nicht
verformenden Ganzen, welches nicht aktual ist, also im V o r s e i n bleibt. So
ergibt sich r e i n a n a l y t i s c h der Unterschied von diesseitigem Sein oder
Dasein und jenseitigem, transzendentem Sein oder Vorsein. Beide, das dies-
seitige wie das jenseitige Sein gehören demnach der E r f a h r u n g an, wenn
auch nur das erstere der sinnlichen Erfahrung. Das bewies unsere Analysis der
Ganzheiten, die streng im Rahmen der Erfahrung blieb
1
.
Daß die im Vorsein verbleibende Wurzel der Ganzheit nicht in die Seins-
ebene des Ausgegliederten übergeht, ist wieder ein Beweis dafür, daß der richtig
verstandene Ganzheitsbegriff nicht zur Vermischung des ausgliedernden, schaf-
fenden und des ausgegliederten, geschaffenen Seins führen könne, daher auch
1
Weiteres darüber siehe unten § 22
,
III, S. 220 ff. und öfter.
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