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§ 11. Vollkommenheit

1

Erläuterung zu Lehrsatz 2: Ganzheit ist in allen Weisen

arteigen vollkommen

(Vollkommenheit als Grundlage aller Seinsweisen)

αμα

γάρ

αύτά άνάγκη μανϋάνειν, και το

ψεύδος χαϊ άληϋές της δλης οναιας

,

Denn man muß beides zugleich, das Falsche

und das Wahre des ganzen Seins, verstehen

lernen ...

Platon

2

Den vorstehenden Lehrsatz können wir verständlicher auch, so

formulieren: Das G a n z e w i r d i n d e n T e i l e n v e r -

s c h i e d e n v o l l k o m m e n u n d u n v o l l k o m m e n g e -

h ö r e n. Es ist eine Grundtatsache aller Erfahrung, daß die Ganzheit

ihr reines Wesen nie vollkommen verwirklicht, sondern stets

F e h l a u s g l i e d e r u n g e n zeigt. Kein Lebewesen ist völlig ge-

sund, kein Denkgebäude schlechthin ohne Denkfehler, kein Staat

ohne alle Mißstände und so fort.

„Vollkommenheit“ wird als „Kategorie“ auf Widerspruch stoßen.

Vom Standpunkte naturalistischer Ursächlichkeit aus mit ihrer blin-

den, mechanischen Notwendigkeit, erscheint es in der Tat unmög-

lich, von Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Dinge zu

sprechen. Die Drehung der Erde um sich / selbst, die Sonnen- und

Mondesfinsternisse, die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes, die Gravitation

nach dem Gesetze m.m‘ das sind Tatsachen, so sagt die

r2

Physik mit Recht, die weder vollkommen noch unvollkommen

sind, sondern sie s i n d einfach, und zwar eindeutig, kausal-be-

stimmt. Das ist gewiß folgerichtig. Die Frage ist nur, ob dieser

Standpunkt selbst richtig oder auch nur ausreichend sei? Er ist es

n i c h t , soweit Ganzheit erkennbar wird!

1

Die Vollkommenheit als Grundlage oder Prius der Kategorien wäre

systematisch vor die Ausgliederung zu stellen. Da aber ihr Verständnis auf

den Begriffen des erfüllten Seins und des sinnvollen Seins beruht, diese Be-

griffe aber ohne den der Ausgliederung nicht erklärt werden können, wurde

die Vollkommenheit nach der Ausgliederung behandelt.

2

Platon: Staatsschriften, griechisch und deutsch, herausgegeben von Wil-

helm Andreae, Teil 1: Briefe, Jena 1923, Brief 7, S. 344 B (= Die Herdflamme,

Bd 5).