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„Material“, wie man wohl eine Fuhre Schotter auflädt und beurteilt nicht den
Taifun des geschichtlichen Flugsandes — denn sie hat k e i n e „induktive Me-
thode“ (die es im letzten Grunde überhaupt nirgends gibt noch je gab) — sondern
sie hat die G a n z h e i t e n d e s g e s e l l s c h a f t l i c h e n L e b e n s z u
r e k o n s t r u i e r e n u n d z u b e s t i m m e n ; und diese Ganzheiten haben
ihre inneren Sacherfordernisse und damit ihre objektiven Wertmaßstäbe.
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Diese Beispiele ließen sich leicht vermehren, aber sie zeigen schon
deutlich, daß zuletzt keine Wissenschaft, auch nicht die exakte Na-
turwissenschaft, ohne Vollkommenheitsbegriffe auskommen kann.
Das Wesen der Vollkommenheit — die auch im weiteren Sinne
des Wortes als Zweckhaftigkeit, Sinngehalt, Wert, Gültigkeit, Sol-
len, Normativität des Gegenständlichen in der Welt (niemals bloß
der Subjekte!) gefaßt werden kann — wurde bisher darum so häu-
fig selbst in den großen Lehrgebäuden der Philosophie nicht richtig
bestimmt, w e i l m a n v o n d e m B e g r i f f e i n e s l e e r e n
S e i n s a u s g i n g , eines Seins, das zum Wesen hinzukommen soll
und dadurch die Vollkommenheit oder das Gute n e b e n das Sein
stellte. Haben wir ein leeres, bestimmungsloses „Sein“ vor uns, dann
allerdings kann die Vollkommenheit niemals eine Kategorie sein.
Darum sehen wir selbst bei Aristoteles, Thomas, Hegel das Wesen
der Vollkommenheit nicht durchaus ausreichend bestimmt, inso-
ferne es neben den Kategorien einherläuft, statt ihre Grundlage zu
bilden. Wäre „Sein“ wirklich bestimmungslos, wäre es also ohne
sinnvolle, und das ist gesollte Bestimmtheit zu denken, dann gälte
der Satz: S e i n i s t v o r S o l l e n , die Seinskategorien wären
früher als ihre Vollkommenheit, statt des richtigen Satzes: S o l l e n
i s t v o r S e i n , Vollkommenheit ist vor Unvollkommenheit —
das reine Wesen vor seiner verschieden vollkommenen Verwirkli-
chung. Das Sollen, die Vollkommenheit wird dann fälschlich ent-
weder als Inbegriff subjektiver Setzungen oder als solcher metaphy-
sischer Bestimmungen gefaßt, die von außen her an das Sein heran-
treten; sei es als der (gleichsam nachträgliche) Wille Gottes, sei es
auf andere Weise. Auch Hegel beginnt sein Begriffsgebäude mit
einem bestimmungsleeren „Sein“. Platon, Aristoteles und Plotin
haben in ihrer „Materie“ gleichfalls ein leeres Sein (das Leere geht
so weit, daß es zur reinen Potentialität wird).
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Da es aber kein leeres Sein gibt, sondern dem Begriffe nach nur
ein sinnvoll erfülltes, nämlich mit dem Sachgehalt einer Ganzheit,
die sich ausgliedert, ausgestaltet und diese Ausgliederung nach be-