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doch die Gesundheit auch unerwünscht sein (Askese, Selbstmordversuche, Mord!);
sondern aus dem g e g e n s t ä n d l i c h e n Maßstab, den der Sachgehalt der
Ganzheit „lebendiger Organismus“ selbst in sich trägt. Daher ist auch „Tod“
ein Unvollkommenheitsbegriff gegenüber dem Sachgehalt des lebendigen Organis-
mus; ähnlich die Begriffe „Lebensunfähigkeit“, „Lebensfähigkeit“. Ferner: Ver-
vollkommnung der Organe durch „Übung“; ähnlich die „Anpassung“, die „Ge-
wöhnung“, die „Widerstandsfähigkeit“ und „Behauptung“, die „Mimikry“. —
Ferner ist ein offensichtlicher Unvollkommenheitsbegriff jener der „Mißgeburt“.
Dieser Begriff ergibt sich nicht vom Standpunkt der Schönheit aus, sondern von
der objektiven Ordnung der Ganzheit aus, vom objektiven Bauplan und Sach-
gehalt des Organismus aus. Das Fehlen eines Fingers könnte vielleicht schön wir-
ken, es bedeutet aber eine unvollkommene Ausgliederung der Organe, auf
welche die Ganzheit angelegt ist. Ebenso steht es mit den Begriffen „normal —
abnormal“, die ihre Maßstäbe im eindeutig und sinnvoll angelegten Gliederbau
des Ganzen selbst, nicht im Subjekt des Beurteilers haben, und insbesondere
durchaus keine schwankenden, äußerlichen „Durchschnittswerte“ sind, wie der
oberflächliche Sensualismus und Materialismus von gestern und heute annehmen
möchte.
Ähnlich zu beurteilen sind weiter die wichtigen Begriffe: Gift, Arznei, / denn
nicht, ob deren Wirkung subjektiv wünschenswert ist, kommt bei ihnen in
Frage; vielmehr wie „Gift“ oder „Arznei“, am Maßstab des Gegenstandes selbst
gemessen, fördernd oder schädigend eingreift, bestimmt das Vervollkommnende,
bestimmt, ob es sich um Arznei oder Gift handelt.
Weitere gleichartige Begriffe sind: „Regenerationsvermögen“, das ist die
Wiederherstellung des Fehlenden, und „Regulation“, wie sie zum Beispiel im
Sinne des bauplanmäßigen Einflusses der Nerven auf die Organe vorliegt. Ver-
geblich versuchen die Mechanisten die Regulation in „Selbststeuerung“ oder ähn-
liche „exakt“ anmutende Begriffe aufzulösen. Denn selbst an einer „mechanischen
Selbststeuerung“ wäre das Zweckhafte, Ganzheitliche, sinnvoll Leistende erst
noch zu erklären. Die Begriffe, welche vitalistische Richtungen einzuführen ver-
suchten, sind zum Teil zugleich Vollkommenheitsbegriffe. So der Begriff der
„Zielstrebigkeit“ (Karl Ernst von Baer), der Begriff von „Bauplan“, „Wirkwelt“
und „Merkwelt“ als zusammengehörig (Üxküll), der Begriff der „harmonischen
Äquipotentialität“ (Driesch)
1
. Sogar der Begriff des „inneren Milieus“, trotzdem
er mechanistisch gemeint ist, schließt unumgänglich einen normativen Sinn in sich.
IV. Psychologie
Die Versuche, das Seelenleben als bloße Assoziationsmechanik zu erfassen,
dürfen heute als gescheitert gelten. Alle seelischen Erscheinungen haben aus-
nahmslos ganzheitliche Art und zeigen dadurch die Vollkommenheits- und Un-
vollkommenheitserscheinungen, die bei jeder Ganzheit — nach dem Maßstabe
ihres eigenen Sachgehaltes, nicht nach subjektiven Zufälligkeiten des Beschauers
gemessen — auftreten. Zum Beispiel gibt es grundsätzlich nur einen auf Ord-
1
Vgl. dazu die Darstellung von Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte
und Lehre, TI 1: Geschichte des Vitalismus, 2
.
Aufl., Leipzig 1922, S. 167 ff.
(= Natur- und kulturphilosophische Bibliothek, Bd 3).