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nung angelegten Denkverlauf und innerhalb desselben Krüppelformen des Den-

kens (sprunghaftes, verworrenes, unlogisch folgerndes Denken). „Wahrnehmungs-

täuschung“, „Erinnerungstäuschung“, „Sicherheit und Richtigkeit der Erinne-

rung“, „Wortblindheit“, „Farbenblindheit“, „Versprechen“, „Übung“ — diese

und hundert andere ähnliche Begriffe weisen auf Vollkommenheit und Unvoll-

kommenheit des Gegenstandes hin. Schon daß der seelische Organismus ebenso

den Begriff „psychischer Störung“, also der Krankheit und Gesundheit, kennt

wie der körperliche und demgemäß auch eine eigene Seelenheilkunde besteht,

bezeichnet den Sachverhalt genügend

1

.

/

V.

Logik und Erkenntnistheorie. Normwissenschaften

Soweit die Logik als Lehre vom richtigen Denken gefaßt wird, ist sie von

lauter Vollkommenheitsbegriffen erfüllt, denen die der Unvollkommenheits-

begriffe in der Lehre vom unrichtigen Denken entsprechen („Zirkelschluß“ usw.).

Ebenso hat die Erkenntnistheorie im Begriffe der Wahrheit schon von Anbe-

ginn einen Vollkommenheitsbegriff zum Gegenstande.

Für alle anderen sogenannten N o r m w i s s e n s c h a f t e n wie Schönheits-

lehre, Sittenlehre gilt von vornherein das gleiche. Alles Sittliche geht von Natur

auf Vollkommenheit. Jeder Sittenbegriff stellt ein Vorbild auf. Und ebenso

sehen wir, wie in der K u n s t alles auf Vollkommenheit angelegt ist. Denn im

Kunstwerk kann alles nur nach dem Maß der Idee und der Gestalt bestehen.

In der Kunst steigt der menschliche Genius in die Tiefe des Wesens der Dinge

hinab, in ihren ersten Quell und Ursprung, um sie von dort aus, nach ihrem reinen

Wesensgesetz verklärt und v o l l k o m m e n , erstehen zu lassen. Es ist das Ab-

sehen aller Kunst, das prophetische Wort der Vollkommenheit auszusprechen.

VI. Gesellschaftswissenschaft

A. In der V o l k s w i r t s c h a f t s l e h r e

stand selbst für den Begründer der kausalen (individualistischen) Schule, Quesnay,

ein „ordre naturel“ einem „ordre positif“ wie eine vollkommene der unvoll-

kommenen Ordnung gegenüber. Erstere war die sogenannte freie Verkehrswirt-

schaft, die nicht aus subjektiven Gründen, sondern wesensgemäß als die voll-

kommene erschien; letztere war die damals geschichtlich gegebene merkantili-

stisch-feudalistische Ordnung, die als wesenswidrig und daher unvollkommen

erschien. Dagegen haben zum Beispiel meine r e i n a n a l y t i s c h e n Unter-

suchungen ergeben, daß die wesensgemäße Wirtschaft die ständisch gebundene,

die wesenswidrige, die freiverkehrende und kommunistisch gebundene ist

2

. Wie

1

Vgl. unter anderem die Schriften von Otto Selz und Karl Bühler, Franz

Brentano und Carl Stumpf. Ferner mein Buch: Erkenne Dich selbst, Jena 1935

(= Ergänzungsbände zur Sammlung Herdflamme, Bd 6) [2. Aufl., Graz 1968,

Bd 14].

2

Vgl. mein Buch: Tote und lebendige Wissenschaft (1921), 4. Aufl., Jena

1935 [5- Aufl., Graz 1967, Bd

6

der Gesamtausgabe].