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dem auch sei: solche Begriffsstreitigkeiten beweisen methodisch die Vollkom-

menheitskategorie, denn in beiden Fällen wurde versucht, den Maßstab für das,

was sein soll, aus dem Wesen der Sache zu entnehmen. Es muß daher hier

anders liegen als zum Beispiel in der kausalen Auffassung des freien Falles,

es muß im Wesen der Sache selbst ein Maßstab der Vollkommenheit oder Un-

vollkommenheit liegen.

Einige andere Vollkommenheitsbegriffe, die den v e r s c h i e d e n s t e n Rich-

tungen der Volkswirtschaftslehre eigen sind, wären noch: Produktivität und

Unproduktivität der Wirtschaft; Krise, „Inflation“ (als Unvollkommenheitsform

gedacht); gedecktes Papiergeld; zinslose Wirtschaft, profitlose Wirtschaft (beide,

wenn auch mit fraglichem Rechte, / als Vollkommenheitsform gedacht); „rich-

tige“ und „unrichtige“ Wirtschaft („Unwirtschaft“) — durch welche Begriffe

alle eingeräumt wird, daß im Wesen der Wirtschaft selbst die Möglichkeit zu

vollkommener oder unvollkommener Ausgliederung liegt, ähnlich wie beim Or-

ganismus durch die Begriffe „Mißgeburt“ oder „lebensfähig“; endlich sind Armut

und Reichtum, passive und aktive Bilanz Vollkommenheitsbegriffe der Wirt-

schaft.

B . I n d e r R e c h t s - u n d S t a a t s l e h r e

sind die alten Naturrechtstheorien trotz ihrer atomistischen Art zugleich Voll-

kommenheitstheorien; „Lehre vom richtigen Recht“ nennt Rudolf Stammler eines

seiner Bücher und will damit nicht subjektiv, sondern aus dem objektiven Maß-

stabe des Rechtes heraus analytisch bestimmen. Recht, Unrecht; Verbrechen,

Vergehen; Strafe, Lohn sind durchaus Vollkommenheitsbegriffe.

C . G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t

Die Begriffe von Verfalls- gegen Aufschwungszeiten; von großen Herrschern,

großen Feldherren; Fortschritten der Kultur und Zivilisation geben sich von

Anbeginn als objektive Vollkommenheitsbegriffe gegen Rückschritte, bezeugen,

daß der Historiker ohne Vollkommenheitsbegriffe nicht auskommt. Sie wollen

nicht am Subjekt Geschichtsschreiber, sondern an dem Maßstabe der jeweils

beteiligten Ganzheiten gemessen sein. Ferner: Begriff von echten und gefälschten

Urkunden, die sogenannte „äußere Kritik der Quellen“; besonders aber weist

die sogenannte „innere Kritik“ auf Vollkommenheitsbegriffe hin, die wieder

grundsätzlich nicht im Betrachter, sondern im Sachverhalte selber, für j e d e n

Betrachter, ihren Maßstab finden. Wilhelm Bauer formuliert zum Beispiel für

die innere Kritik der Quellen folgende Fragen: „War der Verfasser der Quel-

len in der Lage, die Wahrheit zu berichten“, „hat der Verfasser die Wahrheit

berichten wollen“, und nennt dieses „objektive“ und „subjektive“ Wahrhaftig-

keit einer Quelle

1

. Es ist hier der oben erwähnte Begriff der „Eignung“, der

uns an Quellen, Zeugnissen wieder begegnet. Die Geschichte sammelt eben nicht

1

Wilhelm Bauer: Einführung in das Studium der Geschichte, Tübingen

1921, S. 184 ff., 313 ff. und öfter.