106
[109/110]
dem auch sei: solche Begriffsstreitigkeiten beweisen methodisch die Vollkom-
menheitskategorie, denn in beiden Fällen wurde versucht, den Maßstab für das,
was sein soll, aus dem Wesen der Sache zu entnehmen. Es muß daher hier
anders liegen als zum Beispiel in der kausalen Auffassung des freien Falles,
es muß im Wesen der Sache selbst ein Maßstab der Vollkommenheit oder Un-
vollkommenheit liegen.
Einige andere Vollkommenheitsbegriffe, die den v e r s c h i e d e n s t e n Rich-
tungen der Volkswirtschaftslehre eigen sind, wären noch: Produktivität und
Unproduktivität der Wirtschaft; Krise, „Inflation“ (als Unvollkommenheitsform
gedacht); gedecktes Papiergeld; zinslose Wirtschaft, profitlose Wirtschaft (beide,
wenn auch mit fraglichem Rechte, / als Vollkommenheitsform gedacht); „rich-
tige“ und „unrichtige“ Wirtschaft („Unwirtschaft“) — durch welche Begriffe
alle eingeräumt wird, daß im Wesen der Wirtschaft selbst die Möglichkeit zu
vollkommener oder unvollkommener Ausgliederung liegt, ähnlich wie beim Or-
ganismus durch die Begriffe „Mißgeburt“ oder „lebensfähig“; endlich sind Armut
und Reichtum, passive und aktive Bilanz Vollkommenheitsbegriffe der Wirt-
schaft.
B . I n d e r R e c h t s - u n d S t a a t s l e h r e
sind die alten Naturrechtstheorien trotz ihrer atomistischen Art zugleich Voll-
kommenheitstheorien; „Lehre vom richtigen Recht“ nennt Rudolf Stammler eines
seiner Bücher und will damit nicht subjektiv, sondern aus dem objektiven Maß-
stabe des Rechtes heraus analytisch bestimmen. Recht, Unrecht; Verbrechen,
Vergehen; Strafe, Lohn sind durchaus Vollkommenheitsbegriffe.
C . G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t
Die Begriffe von Verfalls- gegen Aufschwungszeiten; von großen Herrschern,
großen Feldherren; Fortschritten der Kultur und Zivilisation geben sich von
Anbeginn als objektive Vollkommenheitsbegriffe gegen Rückschritte, bezeugen,
daß der Historiker ohne Vollkommenheitsbegriffe nicht auskommt. Sie wollen
nicht am Subjekt Geschichtsschreiber, sondern an dem Maßstabe der jeweils
beteiligten Ganzheiten gemessen sein. Ferner: Begriff von echten und gefälschten
Urkunden, die sogenannte „äußere Kritik der Quellen“; besonders aber weist
die sogenannte „innere Kritik“ auf Vollkommenheitsbegriffe hin, die wieder
grundsätzlich nicht im Betrachter, sondern im Sachverhalte selber, für j e d e n
Betrachter, ihren Maßstab finden. Wilhelm Bauer formuliert zum Beispiel für
die innere Kritik der Quellen folgende Fragen: „War der Verfasser der Quel-
len in der Lage, die Wahrheit zu berichten“, „hat der Verfasser die Wahrheit
berichten wollen“, und nennt dieses „objektive“ und „subjektive“ Wahrhaftig-
keit einer Quelle
1
. Es ist hier der oben erwähnte Begriff der „Eignung“, der
uns an Quellen, Zeugnissen wieder begegnet. Die Geschichte sammelt eben nicht
1
Wilhelm Bauer: Einführung in das Studium der Geschichte, Tübingen
1921, S. 184 ff., 313 ff. und öfter.