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von seinem Ganzen, das Ganze von seinem höheren Ganzen ü b e r n i m m t ;
oder aber davon, wie der Sachgehalt, in der Ausgliederung wirklich erreicht, im
Eigenleben des Gliedes wirklich bewahrt wurde. Wo eine sachliche Fehlaus-
gliederung in der Erfahrung vorhanden zu sein scheint, wie etwa in der Mißge-
burt, im Irrtum, der Sinnestäuschung, beim Versprechen, Verschreiben — dort
wird sich bei genauerer Untersuchung immer zeigen, daß der Mangel im Zu-
sammenspiel der setzenden Glieder begründet ist, wodurch die Ganzheit in der
Darstellung sich nicht erreicht. Stets ist es ein Zurückbleiben, Versagen der einen,
ein übermäßiges Hervortreten, Überwuchern der anderen, die den Fehler be-
gründen. Es fehlt am Zusammenspiel, nicht daran, daß der eine oder andere
Faktor nicht w e s e n s g e m ä ß (sachlich richtig) „gewirkt“ hätte, gleichsam
aus seiner Art gefallen wäre. Das finden wir auch sonst in der Natur nicht.
Das Feuer muß brennen, der Muskel kontrahieren, jedes Organ im Organismus
das Seine tun, anderes kann es gar nicht tun, es kann nicht aus seiner Art fallen.
Gleichwie eine / Gleichung beim Ausrechnen das richtige Ergebnis ergeben
muß und ein Fehler nur am falschen Zusammenspiel der Rechenglieder liegt,
s t e t s a u f e i n e m G 1 i e d e r u n g s f e h 1 e r d e r
h e r v o r b r i n g e n -
d e n G l i e d e r , nicht aber an einem Sachfehler in dem Sinne, daß ein —
plötzlich nach Art eines + gewirkt hätte, so in allen Ganzheiten
1
.
Zusatz
über
die
sogenannte Wertfreiheit
der
theoretischen Gesellschafts-
wissenschaften
Seit Max Webers und Sombarts Vorstößen auf dem Verein für Sozial-
politik in Wien 1909, in welchem die „Wertfreiheit“ der theoretischen Ge-
sellschaftswissenschaften behauptet wurde und die Werturteile den politischen
Wissenschaften (zum Beispiel der Volkswirtschaftspolitik, der Sozialpolitik) zu-
gewiesen wurden, hat dieser Streit nicht geruht. Die Ausgangspunkte Max We-
bers liegen ganz folgerichtig in der herkömmlichen Logik (besonders auch der
Rickertischen), welche den allgemeinen Begriff als theoretischen Gesetzesbegriff
(nomothetischen Begriff) faßt und die Werturteile den geschichtlichen Wissen-
schaften und „Kulturwissenschaften“ zuweist. Daran ist nur soviel richtig: daß
die politischen Werturteile und die rein analytischen Urteile über die Voll-
kommenheit des Gegenstandes der Wissenschaft getrennt werden müßten. Die
politischen Werturteile müssen mit Metaphysik (also auch Religion, Theologie,
Weltanschauung überhaupt), Sittenlehre, Ästhetik usw. notwendig Zusammen-
hängen, das heißt sie fallen unter die sogenannten normativen (richtiger normie-
renden imperativischen) Wissensgebiete; die analytischen Befunde über jene Voll-
kommenheiten und Unvollkommenheiten, die sich aus dem Gefüge und Sach-
gehalt des Gegenstandes selbst ergeben, sind dagegen von jenen politischen un-
abhängig. Der Begriff der „Krise“ ist für alle Standpunkte — wenigstens soweit
die Vollkommenheitsseite in Betracht kommt — ein gleicher; er zeigt nämlich einen
unvollkommenen, einen wesenswidrigen Zustand der S a c h e an, der, wenn
er dauernd wäre, ebenso zur Vernichtung des Gegenstandes (der Volkswirt-
schaft) führen würde, wie zum Beispiel die Vergiftung den Tod herbeiführt.
Ebenso müßten bei gleichen analytischen Voraussetzungen alle Vollkommenheits-
urteile der Wissenschaften übereinstimmen, beziehungsweise rein analytische
1
Uber das Verhältnis von S e i n u n d S o l l e n siehe oben S. 108, unten
S. 153 und öfter. — Über das U n h o l d i s c h e , die absichtliche Unvollkom-
menheit, siehe mein Buch: Geschichtsphilosophie, Jena 1932, besonders S. 331 ff.
(= Ergänzungsbände zur Sammlung Herdflamme, Bd 5).