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um auch zu begreifen, daß alles Reale sich in Umgliederung befindet
und daß das Ruhende auch das Nichtseiende sein muß.
Indem die Ausgliederung schon auf die Rücknahme angelegt ist,
ist Tod das Los alles Wirklichen. Daß alles Wirkliche sterblich sei,
ist darum ein Urgesetz, welches nur eine verblendete materialisti-
sche Physik leugnen kann, die aus angeblich unverwüstlichen Ato-
men die Welt aufbauen will. — Es ist ferner auch klar, daß jeder
Physiologie der Tod ein absolutes Rätsel bleiben / muß, solange sie
vom lauteren Leben aus den Tod zu erklären sucht. Man muß schon
in jedem Lebensakt selbst den Tod erkennen! Wenn das Leben nicht
fortwährend stürbe, wie könnte es dann je sterben? Und erst weil es
fortwährend stirbt, muß es auch fortwährend geboren werden.
Wenn es nicht fortwährend neu geboren würde, wie könnte es dann
überhaupt je geboren werden?
Auch das Leiden lernt man von hier aus verstehen, soweit es dem
Eigenleben die tiefsten Antriebe und die mächtigste Läuterung
gibt. Und endlich liegt in der Sterblichkeit alles Wirklichen und in
dem immer währenden Weltenbrand, der immerwährenden Welten-
dämmerung, die sie in sich schließt, auch die Idee der Erlösung und
Verklärung, die keiner Religion, keinem tiefen Begriff des Lebens
fremd ist. Denn keine Ganzheit ist zu absolut reiner Ausgliederung,
kein Wirkliches zu dauerndem Bestand fähig.
Dies alles erwogen, erscheint nicht eigentlich die Wiederausglie-
derung als das Rätselhafte; denn alles, was an der Ganzheit ist, ist
nun einmal nur durch unaufhörlich neues Sich-Setzen im Gliede.
Schwieriger erscheint das V e r s c h w i n d e n eines Gliedes, die
Nicht-Wiederausgliederung des vom Schauplatz Zurückgenomme-
nen. Dieses Verschwinden wird nur begreiflich, wenn man bedenkt,
daß im Begriff der Zeit auch jener der Veränderung liegt und die
Ganzheit selber es ist, die sich im Gang der Entfaltung mit neuem
Sinn und Leben erfüllt; gleichwie wir auch in Tod und Wieder-
herstellung des Gliedes eine Ü b e r w i n d u n g des Früheren
sahen, also auch die Ganzheit selbst! Es ist die sinnvolle Fortschrei-
tung in der Ausgliederung des Ganzen, die zum Begriff der Ent-
faltung selbst notwendig gehört. — Im Begriff des „Schicksals“ wird
darauf später zurückzukommen sein
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Siehe unten S. 207 ff.