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ohne systematischen Bezug auf die frühere Ausgliederung derselben
Ganzheit nicht möglich! Die Umgliederung knüpft nicht nur an
den augenblicklich vorhergehenden Zustand an, sondern grundsätz-
lich an alle vorhergehenden Zustände; die allerdings nicht alle
gleich wirksam, gleich wesenhaft für jede Gegenwart sind. Indem
zum Beispiel der Leser dieses Buches diese Zeilen liest, knüpft er an
seine Volksschulzeit an, in der er lesen lernte. In diesem Falle ist es
zwar ein recht äußerliches Bestimmtwerden durch Früheres, aber
auch dieses Äußerliche erweist sich als durchgängig bestimmend. Der
Sünder lebt stets von seinen besseren Zeiten, der Gebesserte durch
und in der fortdauernden Überwindung der Fehler früherer Zeit,
welcher Überwindung als einer wesentlichen und in heißem Be-
mühen vollzogenen Bezugnahme auf das (mitgegenwärtige) Ver-
gangene er allein das Seinige verdankt. Der Emporkömmling fußt
auf dem Früheren, der Gestürzte ebenfalls. Und in der Geschichte
sehen wir jede Kultur, jedes Zeitalter auf die ihm kongenialen wie-
der „zurückgreifen“, die metaphysischen Zeiten auf metaphysische
und mystische, die nüchternen, schaffenden wieder auf nüchterne,
schaffende, die Zeit vor dem Krieg auf Renaissance und Aufklärung,
die heutige, trotz allen Unglücks morgenrötliche Zeit, allmählich
wieder auf Gotik und Romantik.
Durch diese und ähnliche Beispiele kann sich jedermann über-
zeugen, wie in der werdenden Ganzheit nicht nur der ihr unmittel-
bar vorhergehende Zustand, sondern auch das Altvergangene lebt.
Die Zeit kann mit ihrer die Zustände trennenden Tendenz niemals
vollkommen durchdringen. Auch das Getrennteste ist sich in ge-
wissem Sinn noch immer unmittel- / bar nahe und ineinander. Die
Einheit in der Ausgliederung und die Einheit in der zeitlichen Um-
gliederung sind diese beiden Aufhebungsmomente jener Trennung
1
.
Hier zeigt sich konkret, was wir früher nur allgemein erkannten:
Alles Zeitliche ist zugleich überzeitlich — weil an die unzeitliche,
unzerstreute Einheit der Entfaltung des Ganzen geknüpft. Und noch
mehr, auch die Zukunft ist als Aufgabe immer schon da, die Ver-
gangenheit als Grundlage unvergänglich.
Hiermit ist die Grundlage für den Begriff einer o r g a n i s c h e n
Z e i t gegeben, die im Überzeitlichen, im Zeitlosen als in ihrer
Einheit ruht und keine sinnlose, mechanische Veränderung ist.
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Wozu noch die erst später zu erklärende Rückverbundenheit kommt.