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M e i s t e r E c k e h a r t erklärt die Abgeschiedenheit folgendermaßen:
„Was ist denn nun Abgeschiedenheit, daß sie solche Macht in sich birgt?
Wahre Abgeschiedenheit bedeutet, daß der Geist so unbeweglich steht in allem,
was ihm widerfährt, es sei Liebes oder Leides, Ehre oder Schande, wie ein breiter
Berg unbeweglich steht in einem kleinen Winde. Diese unbewegliche Abge-
schiedenheit macht am meisten den Menschen gottähnlich.“
1
„Nun zu der Frage, was der Gegenstand der lauteren Abgeschiedenheit sei?
Nicht dies oder das ist ihr Gegenstand; sie geht auf ein reines Nichts, denn sie
geht auf den höchsten Zustand, in welchem Gott ganz nach seinem Willen in
uns walten kann... Gott waltet, je nachdem er Bereitschaft findet: sein Walten
ist ein anderes im Menschen als im Stein. ... In einem Herzen, wo noch dieses
und jenes Raum hat, da findet sich auch leicht etwas, was Gott am vollen Wirken
hindert“... — „Das abgeschiedene Herz begehrt aber nichts und hat auch nichts,
dessen es gern ledig wäre.“ — „Diese Gleichförmigkeit wird hergestellt, indem
der Mensch sich G o t t unterwirft... Das abgeschiedene Herz steht aller
Kreaturen ledig.. . darum ist es am empfänglichsten für das Einfließen
Gottes.“
2
„Je mehr der Mensch sich von dem Geschöpf entfernt, desto mehr
eilt ihm der Schöpfer zu.“ — „Nun möchte jemand sagen: Wer könnte denn im
unverwandten Anblicken des göttlichen Gegenstandes verharren? Dem erwidere
ich: Niemand, der lebt, hier in der Zeit. Es soll dir auch nur darum gesagt
sein, damit du wissest, was das Höchste ist, und worauf du dein Begehren und
Trachten richten sollst. Wenn aber dieses Schauen dir entzogen wird, und du
bist ein guter Mensch, so muß dir sein, als sei dir deine ewige Seligkeit genom-
men. Dann kehre bald darein zurück, daß es dir wieder werde; und behalte dich
allezeit fest in Obacht; und dorten laß, soweit es irgend möglich ist, dein Ziel und
deine Zuflucht sein!“
3
„Mein äußerer Mensch schmeckt die Kreaturen als Kreaturen; mein innerer
Mensch schmeckt sie als Gabe Gottes; aber mein innerster Mensch schmeckt sie
nicht als Gabe Gottes, sondern als von jeher mein.“
4
/
„Warum geht ihr nur aus? Warum bleibt ihr nicht bei euch selber und greift
in euren eigenen Schatz? Ihr tragt doch alle Wirklichkeit dem Wesen nach in
euch!“
5
„Darum haben alle Dinge ein Eilen hin zu ihrer höchsten Vollkommenheit und
flüchten sich aus ihrem Leben in ihr Wesen.“
6
Im Grunde „da bin ich, was ich war, da nehme ich weder ab noch zu, denn
da bin ich ein Unbewegliches, welches alle Dinge bewegt“
7
.
Bei T a u
1
e r heißt es: „. .. soll da . . . ein Übergang aus sich selbst und über
sich stattfinden [in den Grund], so müssen wir alle Eigenschaft des Wollens
und Begehrens und Wirkens verleugnen, es soll da ein bloßes lauteres Gott-im-
1
Meister Eckehart, herausgegeben von Franz Pfeiffer, Göttingen 1857, S. 486,
Zeile 35
[2. unveränderte Aufl., Göttingen 1906]
(= Deutsche Mystiker
des vierzehnten Jahrhunderts, Bd 2).
2
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, . . . S. 483 ff.
3
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, . . . S. 493, Zeile 2.
4
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, ... S. 180, Zeile 30.
5
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, ... S. 67, Zeile 17.
6
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, ... S. 180, Zeile 3.
7
Meister Eckehart, Ausgabe Pfeiffer, ... S. 284, Zeile 22.