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R ü c k v e r b u n d e n h e i t , das heißt die Mit-Hingabe, die ge-

meinsame Mittewendigkeit mindestens zweier Glieder.

Daß das Entscheidende an der Gezweiung nicht die Mitausge-

gliedertheit ist, sondern die Mit-Eingliederung, Mit-Rückverbun-

denheit, liegt, wie gesagt, am Vorrang der Rückverbundenheit, wel-

che letzter Schaffensquell, letzter Lebens- und Bestandsgrund der

Glieder ist. G e z w e i u n g i s t d e r B e s t a n d s g r u n d u n d

d i e L e b e n s f o r m a l l e s G l i e d l i c h e n.

Die gesellschaftswissenschaftliche Zergliederung erweist es überall,

daß es in Erfahrung, Leben und Geschichte kein Geistiges gibt,

welches in voller innerer Absonderung entstünde und bestünde.

Das Geistige im Menschen ist niemals anders als in Gemeinschaft

entfaltbar. Mein Geistiges ist niemals voll für mich, sondern stets

zugleich in irgendeiner (wenn auch noch so mittelbaren, aber stets)

w e s e n h a f t e n Bezugnahme auf eine andere Geistigkeit. Gei-

stiges ist als absolutes Für-sich-Sein nicht denkbar und in Ge-

schichte und Erfahrung nicht auffindbar; es ist, wie wir jene „Be-

zugnahme“ auch kennzeichnen können, nur in Mit-dabei-Sein eines

anderen Geistes, in Berührung mit einem anderen Geist möglich.

Dieses „Mit-dabei-Sein“ hat die verschiedensten Formen. Schon das

bloße „Interesse“, welches die deutsche Sprache tiefsinnig als „An-

teilnahme“ bezeichnet, ist eine solche Form. Kein Gelehrter könnte

denken und forschen, kein Künstler schaffen, wenn nicht wenig-

stens aufnehmend und empfangend ein „Publikum“, eine Zuhörer-

schaft, ein „Interessenkreis“ vorhanden ist oder als später vorhan-

den erhofft wird. Für das Nichts kann nicht geschaffen werden.

Beethoven könnte nicht den letzten Strich unter seine Neunte /

Symphonie setzen, wenn er plötzlich die innere Gewißheit hätte,

daß nie ein menschliches Ohr diese Musik vernehmen werde; sein

geistiges Schaffen würde in diesem Augenblick zu Eis erstarren. Es

wäre denn, daß er es um Gotteswillen täte, also wieder eine geistige

Berührung, zuletzt vielleicht mit den Engeln des Himmels, die seine

Musik anhörten, fände. Darum sagt Goethe: „Was war’ ich ohne

dich, Freund Publikum? — All’ mein Gedanke Selbstgespräch, — All’

mein Empfinden stumm.“

1

— Und von dem alten Schriftsteller

Archytas ist uns das große Wort überliefert: „Wenn jemand zum

1

Goethes sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Bd 3, Stuttgart, Berlin 1907,

S. 367.