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Himmel hinaufstiege und die Natur der Welt und die Schönheit der
Gestirne erschaute, so würde das ihn beseligende Staunen seine
Süßigkeit verlieren, wenn er niemanden hätte, dem er davon be-
richten könnte.“
1
Einige weitere Beispiele mögen noch die Gezweiung veranschaulichen.
Alle Verhältnisse des Lebens zeigen in ihrer Weise die gleiche
schöpferische
Gegenseitigkeit,
wie sie die vorstehende Zergliederung aufwies. Freund und
Freund, Mann und Weib, Künstler und Kritiker, Kritiker und Publikum, und nicht
minder Schüler und Lehrer, Mutter und Kind — sie alle zeugen in ihrem geistigen
Verhältnis untereinander jeweils in ihrer Weise von der auferweckenden und
entfaltenden Kraft geistiger Gemeinschaft. Was der Mensch auch an geistiger
Kraft und Realität entwickle, es ist gar nicht anders denkbar denn im Rahmen
einer Gemeinschaft. Was ein Mensch sich selbst ist, ist er notwendig dem andern,
ja ist er nur durch den andern, wie kein Künstler ohne Publikum, kein Freund-
schaftsgefühl ohne Freund, keine Liebe ohne Geliebte, keine Mütterlichkeit ohne
Kind, selbst keine Heldenhaftigkeit ohne Feind! In diesem Sinne schafft das Kind
die Mütterlichkeit, denn dieses erst macht ihr Grund, schafft die Geliebte die
Liebe, denn sie erst macht ihr Grund, schafft der Feind die Heldenhaftigkeit,
denn er erst macht ihr Grund. Geht man auf solche Weise alle Formen geistiger
Wirklichkeit durch, so zeigt sich: daß ein anderes Geistiges als das durch geistige
Gemeinschaft angeregte, gegründete und immer neu mitgeschaffene nicht auffind-
bar, nicht denkbar ist.
/
Aber nicht nur Realität schaffend ist Gezweiung, sondern in ihr ist auch eine
innerliche Schichtung von F ü h r u n g u n d N a c h f o l g e w i e v o n V o r -
b i l d u n d N a c h b i l d , was sich übrigens auch aus dem Begriffe der Mitte er-
gibt
2
. — An dieser Stelle mögen diese kurzen Hinweise genügen, da ich in
meinem Buch: „Der wahre Staat“, eine knappe, in meiner „Gesellschaftslehre“
3
eine ausführliche Darstellung und Begründung gegeben habe.
All diese Beispiele zeigen, daß die Rückverbindung des Gliedes
in seinem Zentrum nicht erfolgen kann, ohne daß zugleich eine an-
dere Rückverbindung in demselben Zentrum erfolgt.
Vom Standpunkt des Gliedes selbst aus gesehen, ergibt sich aber
eine andere Formel für das Wesen der Gezweiung, welche lautet:
S e l b s t s e i n d u r c h S e i n i m a n d e r n ; wesentlich hieran
ist, daß es kein unmittelbares „Sein im andern“ ist, sondern stets ein
mittelbares — durch die gemeinsame Mitte hindurch. Jedes Glied,
jedes Ding ist nur, indem es im anderen eine Stätte hat, im anderen
sich beide in der gleichen Mitte finden. Man kann diese Wahrheit
1
Angeführt bei Otto Willmann: Geschichte des Idealismus, 3 Bde, Bd 1:
Vorgeschichte und Geschichte des antiken Idealismus, 2. Aufl., Braunschweig
1907, S. 305.
2
Siehe oben S. 235.
3
2. Aufl., Leipzig 1923, S. 131 ff. und öfter [3. Aufl., Leipzig 1930, S. 139
und öfter, 4. Aufl., Graz 1969].