272
[298/299]
Sich-Fügen und -Hingeben schon früher als Grade der Abscheidung
und der Hinwendung zur Mitte kennen. Nur Grade, nicht aber eine
inhaltliche Vollkommenheitsweise kann es demnach geben
1
.
Aber schon die Zurückwendung selbst bedeutet eine Vollkom-
menheit. Jede Rückverbundenheit hat von Seite des Gliedes her
etwas von Schauen und Versenktheit an sich (nicht gerade in be-
wußter Form); und darum ist das Sich-Nicht-Entziehen, das Ver-
senktbleiben schon die Vollkommenheit selbst, die wir / hier fin-
den. Doch hat sie noch eine andere Seite. Es ergab sich, daß Zurück-
wendung des Gliedes in seinen Grund und seine Mitte Reduktion,
Verjüngung ist. Und damit ist jede erneute Rückwendung eine
Heilung, Reinigung, Stärkung, Neugeburt. Wie man in der Musik
die Auflösung eines Mißklanges eine Heilung nennt, so ist in den
Weisen des Seins die Hingabe des Gliedes an seine Ausgliederungs-
mitte schon an sich die Heilung von seiner Selbstheit und hiermit
wieder zugleich das Erneuernde und Schöpferische. Nur dadurch
empfängt jedes Ding, empfängt jeder Mensch sich selbst, daß er sich
hingibt und aufopfert. Wenige ahnen, welche tiefe, die Welt hei-
lende und immer wiedererzeugende Bedeutung das Wort hat: „Ver-
lier es, um es zu besitzen!“ Je weniger der Mensch in seinem Grund
zu wohnen vermag, um so weniger besitzt er an innerer Wurzel
und Gegründetheit, an innerer Ruhe und Festigkeit. Dies alles
heißt aber zuletzt: an Dasein und an Persönlichkeit. Die friedlosen
Menschen und Dinge gebärden sich gar ungestüm in der Welt, aber
sie haben eine schwankende Wurzel und einen seichten Grund, dar-
um haben sie weniger Sein als der tief Gründende, Gediegene, sei-
nem Ganzen und seiner Mitte in Ruhe Einwohnende, Rückver-
bundene.
Wer dieser schlichten Lehre, die uns der Einblick in die Urweisen
des Seins erschließt, recht auf den Grund kommen will, wende sich
an unsere großen Dichter und Musiker und er wird das Dauernde
und Unverwüstliche alles dessen, was in der Tiefe der Ganzheit
wohnt, in seinem Gemüt erfahren. Auch die Weltgeschichte lehrt
dasselbe. Es ist dafür gesorgt, daß nicht das Seichte und Oberfläch-
liche, sondern nur das Tiefgegründete und Gediegene im Laufe der
Begebenheiten bestehen bleibt.
1
Vgl. § 14 und § 15, oben S. 150 ff. und 156 ff., sowie oben S. 217 f.