278
[305/306]
den Möglichkeiten einiges ausgeführt, w i r k l i c h werde. Man
sieht, wie eng Möglichkeit und Wirklichkeit mit dem Begriff der
Freiheit verbunden sind, man sieht auch, wie es sich hier um ab-
g e l e i t e t e K a t e g o r i e n d e s E i g e n l e b e n s handelt.
Werden Möglichkeit und Wirklichkeit von diesem Standpunkt
der Ausgliederung und des Eigenlebens her betrachtet, so ergibt
sich auch, daß genetisch zwar immer das Wirkliche vor dem Mög-
lichen sei (das wirkliche Pferd ist vor dem möglichen, wie Aristote-
les richtig sagte), daß aber dem Wesen der Sache nach das Mögliche
vor dem Wirklichen ist, wie gegen die Aristoteliker festgestellt
werden muß. Denn die Möglichkeit ist nichts als die / Ganzheit im
Vorsein, ein Sein höherer Ordnung, und dieses Sein (sei es der pla-
tonischen Idee, der aristotelischen Form oder der noch unausge-
gliederten Ganzheit, der Ganzheit an sich) kann wirklich werden
oder nicht. Von ihm, vom Möglichen hängt es ab, was wirklich ist
oder werden kann, nicht vom Wirklichen, was möglich ist
1
.
IV. Notwendigkeit und Freiheit
Sie sind dem ganzheitlichen Denken kein ursprüngliches Gegen-
satzpaar, sondern ergeben sich ebenfalls aus der Kategorie des Eigen-
lebens. Erst vom Eigenleben der Ganzheit und des Gliedes her sind
die Begriffe der Notwendigkeit und Freiheit verständlich. Sie er-
weisen sich anders, als sie vom mechanischen Standpunkt aus erschei-
nen. Dieser geht von der blinden Notwendigkeit aus, der mechani-
schen Ursächlichkeit, dem naturgesetzlichen Determinismus und
muß daher die Freiheit als Inbegriff von Unbestimmtheit, Undeter-
miniertheit und das heißt reiner Willkür denken. In diesem Sinn
wäre Freiheit allerdings ein Unbegriff. Wir haben oben den wahren
Sinn der Freiheit erkannt, als jenes Eigenleben nämlich, das infolge
seiner Gliedhaftigkeit an den Rahmen der Ganzheit und seine
eigene Gliedstellung gebunden ist. Hier ergibt sich also die Bindung
oder Notwendigkeit (Determiniertheit) nur als die andere Seite
der Freiheit, nicht als ihr ausschließender Gegensatz. Freiheit und
Notwendigkeit bedingen einander. Sie sind auch keine ursprüng-
1
Vgl. dazu mein Buch: Der Schöpfungsgang des Geistes, Jena 1928, S. 96 ff.
und öfter (= Ergänzungsbände zur Sammlung Herdflamme, Bd 3).